Detaillierte Zusammenfassung des Urteils des Schweizerischen Bundesgerichts (4A_627/2024 vom 16. Juli 2025)
Einleitung
Das vorliegende Urteil des Schweizerischen Bundesgerichts (4A_627/2024 vom 16. Juli 2025) befasst sich mit der Wirksamkeit einer Kündigung eines Geschäftsmietvertrags wegen Zahlungsverzugs (Art. 257d OR) und der Frage der Missbräuchlichkeit einer solchen Kündigung (Art. 271 Abs. 1 OR). Die Rekurrenten, Mieter einer Geschäftslokalität, fochten die vorinstanzliche Bestätigung der Kündigung durch die Genfer Kantonsgerichtsinstanzen an.
Sachverhalt
Die Rekurrenten A._ und B._ mieteten von der Intimierten C._ eine etwa 323 m² grosse Arkade in T._, die als Spielhalle, Billard und Dancing genutzt wurde. Der Mietvertrag lief ursprünglich vom 1. Juni 2000 bis zum 31. Mai 2005 und verlängerte sich danach stillschweigend um jeweils fünf Jahre. Der Mietzins belief sich zuletzt auf CHF 10'549.- pro Monat zuzüglich Akontozahlungen für Nebenkosten von CHF 1'000.-.
Im März 2020 ersuchte der Mieter A.__ aufgrund der COVID-19-Pandemie und der damit verbundenen Schliessung des Betriebs um eine 100%ige Mietzinsreduktion. Die Vermieterin reagierte im April 2020 kooperativ, indem sie eine temporäre Stundung des Mietzinses und der Nebenkosten für April 2020 (bis 1. Juli 2020) und Mai 2020 (bis 1. August 2020) anbot. Sie forderte die Mieter auf, weitere Informationen für zusätzliche Massnahmen wie Zahlungsaufschübe oder Ratenzahlungen zu liefern. Es wurde ausdrücklich kein Mieterlass gewährt.
Im Mai 2020 forderte A._ einen Mieterlass für April bis Juni 2020 (ohne Nebenkosten). In der Folge stellte A._ die Zahlung seines Mietanteils für April, Mai, Juni, August und September 2020 ein, während B.__ seinen Anteil weiterhin zahlte.
Die Vermieterin mahnte am 15. Juli 2020 den fälligen Mietzins für Juli 2020 an. Am 15. September 2020 versandte sie eingeschriebene Mahnungen (avis comminatoires) an beide Mieter, in denen sie die Zahlung von CHF 23'098.- (Mietzinsrückstände für August und September 2020) innert 30 Tagen androhte, verbunden mit der Kündigungsandrohung. Diese Mahnungen wurden von den Mietern nicht abgeholt und gelten gemäss relativer Empfangstheorie am 24. September 2020 (siebter Tag der Aufbewahrungsfrist) als zugestellt. Am 7. September 2020 hatte A.__ noch eine "zusätzliche Hilfe" bezüglich der Mietzinszahlungen bis zum 16. November 2020 angefragt. Am 14. Oktober 2020 erfolgte eine weitere Mahnung für den Mietzins vom Oktober 2020 (CHF 11'549.-). Die Mieter leisteten am 12. und 28. Oktober 2020 je eine Zahlung von CHF 5'775.-. Mit amtlichen Formularen vom 29. Oktober 2020 kündigte die Vermieterin das Mietverhältnis gestützt auf die Mahnung vom 15. September 2020 per 30. November 2020. Die Mieter fochten die Kündigung umgehend an.
Vorinstanzliche Verfahren
Die Mieter beantragten vor dem Tribunal des baux et loyers die Feststellung der Unwirksamkeit bzw. eventualiter der Anfechtbarkeit der Kündigung. Die Vermieterin beantragte widerklageweise die sofortige Ausweisung der Mieter. Das Tribunal des baux et loyers erklärte die Kündigung vom 29. Oktober 2020 als wirksam und gültig, ordnete die sofortige Ausweisung an und verurteilte die Mieter zur Zahlung weiterer Beträge. Es stellte fest, dass die Mahnungen gültig zugestellt worden waren, die Mieter sich der Mietzinsrückstände bewusst waren und die Mahnung klar formuliert war. Die Vermieterin habe nicht treuwidrig gehandelt, da sie nach mehreren Zahlungserinnerungen und Mahnungen gekündigt habe. Die Mieter hätten mehrfach erkennen müssen, dass ihnen kein Mieterlass, sondern lediglich eine Stundung gewährt wurde. Das Kantonsgericht Genf bestätigte dieses Urteil.
Rechtliche Erwägungen des Bundesgerichts
Das Bundesgericht befasste sich im Wesentlichen mit zwei Hauptanfechtungspunkten der Rekurrenten: der Unwirksamkeit der Kündigung aufgrund mangelnder Klarheit der Mahnung (Art. 257d OR i.V.m. Art. 9 BV) und der Missbräuchlichkeit der Kündigung (Art. 271 Abs. 1 OR).
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Zur Unwirksamkeit der Kündigung (Art. 257d OR) und willkürlicher Sachverhaltsfeststellung (Art. 9 BV)
- Rüge der Rekurrenten: Die Mahnungen vom 15. September 2020 seien nicht klar genug gewesen, um ihnen die Höhe der ausstehenden Mietzinsschulden zu verdeutlichen. Sie hätten nicht gewusst, dass sie Mietzins schuldeten. Die Vorinstanz habe diese Tatsache willkürlich verworfen.
- Rechtliche Grundlagen (Art. 257d OR):
- Gemäss ständiger Rechtsprechung muss die Mahnung den ausstehenden Betrag klar und präzise angeben, damit der Mieter genau weiss, welche Schulden er begleichen muss, um die Kündigung abzuwenden. Der Betrag muss bestimmt oder zumindest bestimmbar sein (Verweis auf BGE 4A_429/2022 E. 3.1; 4A_436/2018 E. 4.1).
- Sind die Monate, für die Mietzins geschuldet wird, präzise genannt, ist der Betrag bestimmbar.
- Ein zu hoch angegebener Betrag führt nicht zwingend zur Unwirksamkeit der Mahnung; der Mieter muss einen Fehler dem Vermieter melden, andernfalls ist er nicht schutzwürdig (Verweis auf BGE 4A_429/2022 E. 3.1; 4A_550/2020 E. 7.2).
- Auslegung von Willenserklärungen: Die Anforderungen an die Mahnung basieren auf den allgemeinen Grundsätzen der Auslegung von Willenserklärungen. Zuerst ist der subjektive Wille der Parteien massgebend: Hat der Empfänger die Erklärung so verstanden, wie der Erklärende sie meinte, ist dies entscheidend. Nur wenn dies nicht der Fall ist, kommt das objektivierte Vertrauensprinzip (Auslegung nach Treu und Glauben) zur Anwendung (Verweis auf BGE 121 III 6 E. 3c; 4A_9/2021 E. 4.2.2).
- Zustellung bei eingeschriebenen Sendungen: Bei Nichtabholung gilt die Zustellung am siebten und letzten Tag der postalischen Aufbewahrungsfrist.
- Anwendung auf den vorliegenden Fall:
- Die Mahnungen vom 15. September 2020 nannten einen Betrag von CHF 23'098.- als Mietzinsrückstand für August und September 2020. Dieser Betrag war numerisch bestimmt und die Monate waren klar genannt.
- Die Vorinstanz stellte fest, dass der geforderte Betrag niedriger war als die tatsächlich ausstehenden Schulden der Mieter (welche gemäss Abrechnung der Vermieterin CHF 28'759.- für Mietzins/Nebenkosten bzw. CHF 51'574.60 inkl. Reparaturkosten betrugen).
- Entscheidend war die Feststellung der Vorinstanz, dass die Mieter wussten, dass sie Mietzins schuldeten und dass die Vermieterin keine vollständige Befreiung von der Mietzinszahlung, sondern lediglich eine Stundung angeboten hatte. Die Anfrage von A.__ vom 7. September 2020 nach "zusätzlicher Hilfe" untermauerte die Kenntnis der Mieter über ihre Schulden.
- Da die Vorinstanz den subjektiven Willen der Parteien bzw. die Kenntnis der Mieter vom Bestehen der Mietzinsschuld festgestellt hatte, war eine Prüfung nach dem objektivierten Vertrauensprinzip nicht notwendig.
- Schlussfolgerung des Bundesgerichts: Die Rüge der willkürlichen Sachverhaltsfeststellung ist eine unzulässige appellatorische Kritik, da die Mieter lediglich ihre eigene Beweiswürdigung derjenigen der Vorinstanz gegenüberstellen, ohne Willkür darzulegen. Da die Vorinstanz rechtskonform den subjektiven Willen der Parteien feststellte, war eine objektive Auslegung der Mahnung nicht erforderlich. Eine Verletzung von Art. 257d OR liegt nicht vor.
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Zur missbräuchlichen Kündigung (Art. 271 Abs. 1 OR)
- Rüge der Rekurrenten: Die Vermieterin habe den Mietern zunächst Hoffnung auf Zahlungsvereinbarungen oder gar eine vollständige Befreiung von der Mietzinszahlung gemacht, um dann treuwidrig zu kündigen.
- Rechtliche Grundlagen (Art. 271 Abs. 1 OR):
- Eine auf Art. 257d Abs. 2 OR gestützte Kündigung ist nur unter besonderen Umständen treuwidrig und damit anfechtbar.
- Dies ist der Fall, wenn der Vermieter einen weitaus höheren Betrag als den tatsächlich geschuldeten einfordert und sich über die genaue Höhe unsicher ist (Verweis auf BGE 120 II 31 E. 4b).
- Weitere Beispiele für Missbräuchlichkeit sind: ein insignifikanter Rückstand, eine Begleichung des Rückstandes kurz nach Ablauf der Frist bei zuvor stets pünktlicher Zahlung, oder wenn der Vermieter erst lange nach Ablauf der Frist kündigt. Schliesslich kann Missbrauch vorliegen, wenn der Vermieter von einem anderen, missbräuchlichen Motiv geleitet wird (Verweis auf 4A_108/2012 E. 4.3).
- Die Beweislast für die Treuwidrigkeit liegt beim Mieter (Art. 8 ZGB).
- Anwendung auf den vorliegenden Fall:
- Die Vermieterin hat konsequent gehandelt: Nach anfänglicher Stundung und der Aufforderung zu weiteren Informationen, schickte sie Zahlungserinnerungen, dann formelle Mahnungen mit Kündigungsandrohung und schliesslich die Kündigung, als die Mieter die Frist nicht einhielten.
- Die Vermieterin hat zu keinem Zeitpunkt eine vollständige Befreiung von der Mietzinszahlung in Aussicht gestellt. Sie hat auch keine weiteren Stundungen nach der Mahnung gewährt.
- Die Mieter hatten die erste Mahnfrist (30 Tage nach Zustellung am 24. September 2020, d.h. bis zum 24. Oktober 2020) nicht eingehalten. Die Zahlungen vom 12. und 28. Oktober 2020 waren entweder nach der Fälligkeit der August-/Septembermieten oder nach Ablauf der Mahnfrist vom 15. September 2020 und deckten zudem die Gesamtschuld nicht vollständig ab.
- Die Mieter konnten keinen anderen, missbräuchlichen Kündigungsgrund nachweisen.
- Schlussfolgerung des Bundesgerichts: Die Vermieterin hat nicht treuwidrig gehandelt. Die Mieter waren über ihre Pflichten und die Konsequenzen der Nichtzahlung informiert und haben sich nicht fristgerecht erfüllt. Die Rüge der missbräuchlichen Kündigung wird abgewiesen.
Zusammenfassung der wesentlichen Punkte
- Kein Mieterlass, sondern Stundung: Die Vermieterin gewährte den Mietern aufgrund der COVID-19-Pandemie lediglich eine temporäre Stundung der Mietzinse, aber keinen Mieterlass. Dies war den Mietern bekannt.
- Klarheit der Mahnung: Die Mahnung nach Art. 257d OR muss den geschuldeten Betrag klar und präzise angeben. Ein zu gering angegebener Betrag schadet dem Vermieter nicht, wenn der Mieter die tatsächliche Schuld kannte.
- Auslegung nach subjektivem Willen: Da die Vorinstanz festgestellt hatte, dass die Mieter um ihre Mietzinsschuld und die Art der gewährten "Hilfe" (Stundung, nicht Erlass) wussten, war der subjektive Wille der Parteien massgebend. Eine objektive Auslegung der Mahnung nach dem Vertrauensprinzip war nicht notwendig.
- Keine willkürliche Sachverhaltsfeststellung: Die Kritik der Mieter an den Sachverhaltsfeststellungen der Vorinstanz wurde als unzulässige appellatorische Kritik zurückgewiesen.
- Keine missbräuchliche Kündigung: Die Kündigung wegen Zahlungsverzugs war nicht treuwidrig. Die Vermieterin hatte konsequent und nachvollziehbar gehandelt, indem sie Stundungen gewährte, mahnte und schliesslich kündigte, nachdem die Mieter ihre Zahlungsverpflichtungen trotz Fristsetzung nicht erfüllt hatten. Es wurde kein anderer, missbräuchlicher Kündigungsgrund nachgewiesen.
Das Bundesgericht wies den Rekurs der Mieter ab, soweit er zulässig war.