Zusammenfassung von BGer-Urteil 8C_269/2025 vom 4. September 2025

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Detaillierte Zusammenfassung des Urteils des Schweizerischen Bundesgerichts 8C_269/2025 vom 4. September 2025

1. Einführung und Streitgegenstand

Das vorliegende Urteil des Schweizerischen Bundesgerichts, 8C_269/2025 vom 4. September 2025, befasst sich mit einem Fall aus der obligatorischen Unfallversicherung und der Frage der Berechnung einer Invalidenrente. Die Beschwerdeführerin, die Schweizerische Mobiliar Versicherungsgesellschaft AG (Mobiliar), ficht einen Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 8. April 2025 an, welches die Mobiliar zur Zahlung einer Invalidenrente in Höhe von 38 % an die Beschwerdegegnerin A.__ verpflichtet hatte. Die Mobiliar beantragte die Aufhebung dieses Entscheids und die Bestätigung ihres eigenen Einspracheentscheids vom 19. April 2024, der einen Anspruch auf Invalidenrente verneinte und lediglich eine Integritätsentschädigung (15 %) zusprach.

Der Kern des Streits liegt in der korrekten Ermittlung des Valideneinkommens der Beschwerdegegnerin, d.h. des Einkommens, das sie ohne den Unfall erzielt hätte. Insbesondere geht es um die Frage, ob das vor dem Unfall ausgeübte Teilzeitpensum von 20 % als Basis für eine Hochrechnung auf ein Vollzeitpensum herangezogen werden kann oder ob aufgrund unklarer Verhältnisse statistische Werte heranzuziehen sind.

2. Sachverhaltliche Ausgangslage

A._, geboren 1961, war seit dem 1. Juli 2017 als Hauswartin bei der B._ AG angestellt und somit bei der Mobiliar gegen Unfallfolgen versichert. Am 4. November 2019 wurde sie in V._ von einem Auto erfasst und erlitt ein Polytrauma mit multiplen Verletzungen. Die Mobiliar erbrachte zunächst Heilkosten und Taggelder. Mit Verfügung vom 14. März 2023 und Einspracheentscheid vom 19. April 2024 lehnte sie einen Anspruch auf Invalidenrente ab, gewährte jedoch eine Integritätsentschädigung von 15 %. Das kantonale Versicherungsgericht hob diesen Entscheid auf und sprach A._ ab dem 1. Dezember 2021 eine Invalidenrente von 38 % zu.

3. Rechtliche Grundlagen und Grundsätze

Das Bundesgericht weist zunächst auf die massgebenden Bestimmungen des Bundesgesetzes über die Unfallversicherung (UVG) und des Bundesgesetzes über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) hin. Hierzu gehören die Leistungspflicht des Unfallversicherers (Art. 6 UVG), der Anspruch auf Heilbehandlung (Art. 10 UVG), Taggeld (Art. 16 UVG) und Integritätsentschädigung (Art. 24 UVG).

Besondere Bedeutung für den vorliegenden Fall haben die Definitionen der Erwerbsunfähigkeit (Art. 7 ATSG) und der Invalidität (Art. 8 ATSG) sowie die Grundsätze zur Bestimmung des Invaliditätsgrades (Art. 16 ATSG; vgl. BGE 125 V 256 E. 4; 115 V 133 E. 2; 114 V 310 E. 3c). Der Anspruch auf eine Invalidenrente (Art. 18 Abs. 1 UVG) und deren Beginn (Art. 19 UVG; BGE 134 V 109 E. 4.1) sind ebenfalls relevant.

Hinsichtlich der Beweiswürdigung gelten der Untersuchungsgrundsatz (Art. 43 Abs. 1 ATSG; BGE 138 V 218 E. 6) und der Grundsatz der freien Beweiswürdigung (Art. 61 lit. c ATSG; BGE 125 V 351 E. 3a). Das Bundesgericht ist im Beschwerdeverfahren um Geldleistungen der Militär- oder Unfallversicherung nicht an die vorinstanzliche Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gebunden (Art. 97 Abs. 2 und Art. 105 Abs. 3 BGG). Dies ist ein entscheidender Punkt, da es dem Bundesgericht ermöglicht, die faktischen Annahmen der Vorinstanz zur Arbeitszeit und zum Pensum zu überprüfen.

3.1. Bestimmung des Valideneinkommens

Das Bundesgericht wiederholt die massgebende Praxis zur Ermittlung des Valideneinkommens: * Entscheidend ist, was die versicherte Person im massgebenden Zeitpunkt aufgrund ihrer beruflichen Fähigkeiten und persönlichen Umstände mit überwiegender Wahrscheinlichkeit verdient hätte (BGE 145 V 141 E. 5.2.1). * In der Regel wird am zuletzt erzielten, angepassten Lohn angeknüpft, da davon ausgegangen wird, dass die bisherige Tätigkeit ohne Gesundheitsschaden fortgesetzt worden wäre (BGE 144 I 103 E. 5.3). Ausnahmen müssen belegt werden. * Nur wenn sich das Valideneinkommen aufgrund der tatsächlichen Verhältnisse nicht hinreichend genau beziffern lässt, darf auf statistische Werte wie die Lohnstrukturerhebungen (LSE) des Bundesamtes für Statistik zurückgegriffen werden. Dabei müssen die relevanten persönlichen und beruflichen Faktoren berücksichtigt werden (Urteil 8C_523/2022 vom 23. Februar 2023 E. 7.1). * Massgebend ist immer das Verdienstpotenzial einer versicherten Person im Vollzeitpensum, unabhängig davon, ob vor dem Unfall eine Teilzeit- oder Vollzeiterwerbstätigkeit ausgeübt wurde (BGE 119 V 475 E. 2b; Urteile 8C_627/2024 vom 13. Mai 2025 E. 6.3.2, 8C_244/2015 vom 8. März 2016 E. 6.2.1, 8C_664/2007 vom 14. April 2008 E. 6.2).

4. Entscheid der Vorinstanz und Rügen der Parteien

Das kantonale Versicherungsgericht ging von einem zuletzt erzielten Bruttojahresverdienst von Fr. 20'048.30 aus, der ohne Unfall weiterhin erzielt worden wäre. Es verneinte Mobiliars Argumentation, der Lohn sei für eine Hauswartin zu hoch, da das fortgeschrittene Alter der Beschwerdegegnerin, ihre Berufserfahrung und Spezialaufgaben berücksichtigt werden müssten. Die Vorinstanz stellte fest, dass die Arbeitgeberin ein 20 %-Pensum der Beschwerdegegnerin mehrmals bestätigt habe und daher kein Anlass zum Zweifeln bestehe. Sie rechnete das Einkommen auf ein Vollzeitpensum hoch (Fr. 20'048.30 x 5 = Fr. 100'241.50, angepasst auf Fr. 101'750.55). Bei einem Invalideneinkommen von Fr. 63'504.80 resultierte daraus ein Invaliditätsgrad von 38 %.

Die Mobiliar rügte eine Verletzung des rechtlichen Gehörs (Art. 29 Abs. 2 BV), welche das Bundesgericht jedoch schnell abwies, da die Vorinstanz ihre Überlegungen hinreichend dargelegt habe. Die Hauptrüge der Mobiliar betraf die Bundesrechtswidrigkeit des Invaliditätsgrades von 38 %, insbesondere die fehlerhafte Bestimmung des Valideneinkommens. Sie argumentierte: * Im Arbeitsvertrag sei kein 20 %-Pensum oder 8,4 Stunden pro Woche vermerkt, sondern auf ein "Pflichtenheft" verwiesen. * Das dreiseitige Pflichtenheft mit zahlreichen laufenden, wöchentlichen, monatlichen und jährlichen Aufgaben für drei Liegenschaften könne nicht in einem 20 %-Pensum bewältigt werden. * Es fehlten Arbeits- oder Stundenrapporte. Die eigenen Angaben der Beschwerdegegnerin über die Erledigung grösserer Aufgaben an einem Tag pro Woche und kleinerer Aufgaben unter der Woche deuteten auf ein höheres Pensum hin. * Die Hochrechnung auf Fr. 100'214.50 als Vollzeitlohn sei unrealistisch hoch für eine Hauswartin, zumal die Beschwerdegegnerin keine hauswartspezifischen Ausbildungen habe. Stattdessen sollten LSE-Tabellenlöhne herangezogen werden, was zu einem Invaliditätsgrad von unter 10 % führen würde.

Die Beschwerdegegnerin hielt an der Vereinbarung eines 20 %-Pensums fest, verwies auf mündliche Bestätigungen der Arbeitgeberin und darauf, dass der Nachfolger für denselben Lohn ebenfalls einen Tag pro Woche eingesetzt werde. Sie betonte ihre umfassende Berufserfahrung und die höhere Verantwortung als reine Reinigungskraft, die eine höhere Entlöhnung rechtfertige. Zudem habe die Mobiliar das 20 %-Pensum bei der Taggeldberechnung akzeptiert.

5. Würdigung des Bundesgerichts

Das Bundesgericht schloss sich der Argumentation der Beschwerdeführerin (Mobiliar) in weiten Teilen an. * Fehlerhafte Sachverhaltsfeststellung zum Pensum: Das Bundesgericht stellte fest, dass die Vorinstanz den Sachverhalt bezüglich des 20 %-Pensums der Beschwerdegegnerin unrichtig festgestellt hat (E. 6.2). Es sei nicht nachvollziehbar, dass das umfangreiche Pflichtenheft, welches über drei Seiten hinweg detaillierte und vielseitige Aufgaben listet, mit einem 20 %-Pensum bzw. 8,4 Wochenstunden erledigt werden könnte. Die wiederholten Aussagen der Arbeitgeberin, es handle sich um ein 20 %-Pensum, seien durch eine weitere Telefonnotiz relativiert worden ("rund" ein Tag pro Woche). Auch die eigenen Aussagen der Beschwerdegegnerin, wonach sie grössere Arbeiten an einem Tag pro Woche und kleinere Arbeiten unter der Woche erledigt habe, deuteten auf einen höheren Arbeitsaufwand hin als die angegebenen 20 %. Das Fehlen von Arbeits- oder Stundenrapporten, welche die Erledigung aller Aufgaben innerhalb des behaupteten Pensums belegen würden, stütze die Zweifel an der Pensumsangabe. * Unzulässigkeit der Hochrechnung: Da der effektive Beschäftigungsgrad unklar sei und das Valideneinkommen nicht zuverlässig auf ein Vollzeitpensum hochgerechnet werden könne, war die von der Vorinstanz vorgenommene Multiplikation mit dem Faktor 5 bundesrechtswidrig. Der Einwand der Mobiliar, der hochgerechnete Lohn sei überdurchschnittlich hoch, sei keine ergebnisorientierte Beurteilung, sondern Ausdruck der Unklarheit des Beschäftigungsgrades. * Keine Bindungswirkung von Taggeld- oder IV-Entscheid: Das Bundesgericht stellte klar, dass die anfängliche Akzeptanz des 20 %-Pensums durch die Mobiliar für die Taggeldberechnung (basierend auf dem zuletzt bezogenen Lohn gemäss Art. 15 Abs. 2 UVG) keine Bindungswirkung für die spätere Invalidenrentenberechnung entfaltet. Ebenso wenig bindet eine Invaliditätsschätzung der Invalidenversicherung den Unfallversicherer (BGE 133 V 549 E. 6.2; 131 V 362 E. 2.2.1), da unterschiedliche Bemessungsmethoden angewendet werden. * Anwendung statistischer Werte: Das Bundesgericht gelangt zum Schluss, dass stattdessen auf statistische Werte (LSE-Tabellen) zurückzugreifen ist. Es weist jedoch darauf hin, dass die von der Mobiliar in ihrem Einspracheentscheid verwendeten LSE-Tabellen (TA1 bzw. T17 für Reinigungspersonal und Hilfskräfte) möglicherweise zu tiefe Werte ergeben. Die Beschwerdegegnerin habe aufgrund ihrer langen Dienstdauer und des umfassenden Pflichtenhefts durchaus mehr Verantwortung getragen als eine reine Reinigungskraft (z.B. Koordination von Mietenden und Handwerkern, Wohnungsbesichtigungen). Diese spezifischen persönlichen und beruflichen Faktoren müssten bei der Heranziehung der LSE-Tabellen entsprechend berücksichtigt werden (vgl. E. 3.2).

6. Entscheid des Bundesgerichts und Remission

Das Bundesgericht hiess die Beschwerde der Mobiliar teilweise gut, hob den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen auf und wies die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurück. Die Vorinstanz hat das Valideneinkommen unter Berücksichtigung der statistischen Werte und der spezifischen beruflichen Merkmale der Beschwerdegegnerin neu zu berechnen und sodann über den Anspruch auf Invalidenrente neu zu entscheiden.

7. Kostenregelung

Die Rückweisung der Sache an die Vorinstanz gilt für die Frage der Prozesskosten als vollständiges Obsiegen der Beschwerdeführerin (Mobiliar). Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt. Ihrem Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wurde entsprochen, wobei Rechtsanwältin Debora Bilgeri als unentgeltliche Anwältin bestellt und mit Fr. 3000.- aus der Gerichtskasse entschädigt wird. Die Beschwerdegegnerin ist jedoch zum Ersatz verpflichtet, sobald sie dazu in der Lage ist.

Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:

Das Bundesgericht hat entschieden, dass das kantonale Versicherungsgericht das Valideneinkommen der Beschwerdegegnerin fehlerhaft berechnet hat, indem es ein unklar belegtes 20 %-Pensum auf ein Vollzeitpensum hochrechnete. Die vorliegenden Beweise, insbesondere das umfangreiche Pflichtenheft, legen nahe, dass der tatsächliche Arbeitsaufwand deutlich höher war. Da der effektive Beschäftigungsgrad nicht präzise feststellbar ist, darf das Valideneinkommen nicht durch Hochrechnung des zuletzt bezogenen Lohns bestimmt werden. Stattdessen muss die Vorinstanz statistische Werte (Lohnstrukturerhebungen, LSE) heranziehen. Dabei sind jedoch die spezifischen, über eine reine Reinigungstätigkeit hinausgehenden Verantwortlichkeiten und Erfahrungen der Beschwerdegegnerin angemessen zu berücksichtigen, um eine zu tiefe Berechnung des Valideneinkommens zu vermeiden. Die Sache wurde zur Neuberechnung und neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen. Die Frage der Taggeldzahlung und die Invaliditätsschätzung der IV entfalten keine Bindungswirkung für die Invalidenrentenberechnung.