Zusammenfassung von BGer-Urteil 4A_179/2025 vom 30. Juli 2025

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Das Urteil des Schweizerischen Bundesgerichts 4A_179/2025 vom 30. Juli 2025 befasst sich mit einer Klage wegen ungerechtfertigter Bereicherung und präzisiert die Anforderungen an die Vertretungsmacht von Gesellschaftsorganen sowie die Substantiierungspflichten im Zivilprozess bei einem Informationsgefälle.

I. Sachverhalt und Vorinstanzliche Entscheidungen

Die A._ AG (Beschwerdeführerin), eine Anwaltskanzlei, erbrachte zwischen 2015 und 2017 Rechtsdienstleistungen für mehrere Gesellschaften der "B._-Gruppe", darunter die B._ Holding AG (Beschwerdegegnerin 1) und deren 100%-Tochtergesellschaft C._ AG (Beschwerdegegnerin 2). Die Mandatierung erfolgte jeweils durch die Verwaltungsräte E._ D._ oder H._, und die Rechnungen wurden von den Gesellschaften bezahlt. Hintergrund war ein langjähriger Familienstreit, der zu zahlreichen Verfahren und Organisationsmängeln in den Gesellschaften der B._-Gruppe führte.

Die Beschwerdegegnerinnen, denen weitere Forderungen von Gruppengesellschaften abgetreten wurden, machten geltend, die Mandatierungen seien nicht rechtsgültig erfolgt und die Zahlungen für die Anwaltsleistungen daher ohne Rechtsgrund erbracht worden, was eine ungerechtfertigte Bereicherung der Beschwerdeführerin darstelle.

Das Kantonsgericht Zug wies die Klage zunächst ab, da es keine Sorgfaltspflichtverletzungen der Anwaltskanzlei feststellte und davon ausging, die Kanzlei habe lediglich Weisungen des Verwaltungsrats umgesetzt.

Das Obergericht des Kantons Zug hob dieses Urteil teilweise auf. Es befand, dass die Beschwerdeführerin für spezifische Leistungen, insbesondere im Zusammenhang mit vier Organisationsmängelverfahren (ES 2016 470, ES 2017 53, ES 2017 56, ES 2017 57) und einer Aktennotiz vom 13. April 2016, keine gültige Mandatierung hatte. Die entsprechenden Rechnungen seien daher ohne Rechtsgrund bezahlt worden. Die Klage wegen ungerechtfertigter Bereicherung wurde für diese Beträge teilweise gutgeheissen.

II. Wesentliche Rügen der Beschwerdeführerin vor Bundesgericht

Die Beschwerdeführerin beantragte die Aufhebung des Obergerichtsentscheids und die Abweisung der Klage. Ihre zentralen Rügen waren:

  1. Verletzung der Vertretungsmacht des Verwaltungsrats (Art. 718, 718a, 731b OR, Art. 55 ZPO, Art. 8 ZGB): Die Beschwerdeführerin bestritt, dass den Verwaltungsräten H._ und E._ D.__ die Vertretungsmacht zur Mandatierung gefehlt habe.
  2. Verletzung der Einheit der Rechtsordnung sowie des Auftragsrechts (Art. 394, 398 OR): Eventualiter argumentierte sie, selbst bei fehlender Vertretungsmacht müsse sie als Beauftragte geschützt und entschädigt werden.
  3. Verletzung von Art. 8 ZGB, Art. 55 ZPO und Art. 9 BV bei der Bemessung der Bereicherung: Sie rügte, die Bemessung der rückzuerstattenden Beträge sei mangelhaft und basiere auf ungenügend substanziierten Behauptungen der Beschwerdegegnerinnen.

III. Detaillierte Begründung des Bundesgerichts

Das Bundesgericht wies die Beschwerde ab, soweit darauf eingetreten werden konnte, und bestätigte im Wesentlichen die Argumentation des Obergerichts:

  1. Zur fehlenden Vertretungsmacht und dem qualifizierten Interessenkonflikt:

    • Obergerichtliche Feststellungen zum Interessenkonflikt: Das Obergericht hatte festgestellt, dass die Verwaltungsräte E._ D._ und H._ die Organisationsmängel bewusst herbeigeführt und die Anwaltskanzlei mandatiert hatten, um in den Organisationsmängelverfahren die Auflösung und Liquidation der Gesellschaften "nach den Vorschriften über den Konkurs" zu beantragen. Gleiches galt für die Aktennotiz vom 13. April 2016, in der die Möglichkeit einer Konkursanmeldung der C._ AG geprüft werden sollte, um den Wegfall der Domizile anderer Tochtergesellschaften zu provozieren.
    • Gesellschaftsinteresse vs. Privatinteressen: Das Obergericht argumentierte, dass eine Liquidation nach Konkursrecht grundsätzlich nur als ultima ratio in Frage kommt und bei behebbaren Organisationsmängeln nicht im Interesse der Gesellschaft liegt. Eine solche Liquidation kann zu einer geringeren Aktivenrealisation und zur Verfügungsunfähigkeit (vgl. Art. 204 SchKG) führen, was für eine Gesellschaft bei behebbaren Mängeln nicht vorteilhaft ist. Die hier verfolgte Strategie diente offensichtlich den privaten Interessen der Verwaltungsräte und nicht dem Interesse der Gesellschaften.
    • Erkenntnis des Interessenkonflikts: Entscheidend war die Feststellung des Obergerichts, dass die Beschwerdeführerin diesen qualifizierten Interessenkonflikt tatsächlich erkannt hatte. Das Bundesgericht hielt fest, dass diese Sachverhaltsfeststellung nicht willkürlich war.
    • Rechtliche Konsequenz: Bei einem erkannten qualifizierten Interessenkonflikt handelten die Verwaltungsräte ohne Vertretungsmacht im Namen der Gesellschaft. Folglich kamen die Mandatsverhältnisse für die genannten Leistungen nicht zustande, und die Zahlungen erfolgten rechtsgrundlos im Sinne der ungerechtfertigten Bereicherung. Das Bundesgericht verneinte eine Verletzung von Art. 718, Art. 718a und Art. 731b OR, da der Entscheid nicht auf Zweckwidrigkeit (ultra vires) im Sinne von Art. 718a OR basierte, sondern auf dem Mangel an Vertretungsmacht aufgrund des Interessenkonflikts. Auch eine Verletzung von Art. 8 ZGB wurde verneint, da die Tatsache der Kenntnis des Interessenkonflikts als bewiesen galt.
  2. Zum Auftragsrecht und der Einheit der Rechtsordnung:

    • Die Beschwerdeführerin argumentierte, die Einheit der Rechtsordnung und das Auftragsrecht (Art. 394, 398 OR) seien verletzt, wenn sie für erbrachte Leistungen nicht entschädigt würde, auch wenn die Vertretungsmacht fehle.
    • Das Bundesgericht wies dieses Argument zurück: Wenn die Vertretungsmacht der mandatsgebenden Organe fehlt, kommt das Auftragsverhältnis im Namen der Gesellschaft gar nicht erst zustande. In diesem Fall sind die Bestimmungen des Auftragsrechts nicht anwendbar. Das Bundesgericht betonte, dass der Anwalt nicht die Aufgaben des Verwaltungsrats übernehmen oder strategische Entscheidungen im Gesellschaftsinteresse treffen muss, aber er darf keine Aufträge annehmen, bei denen der Interessenkonflikt der mandatsgebenden Organe offensichtlich und erkannt ist und der Auftrag nicht dem Gesellschaftsinteresse dient.
  3. Zur Bemessung der ungerechtfertigten Bereicherung und Substantiierungspflicht:

    • Das Obergericht hatte die Beschwerdegegnerinnen als behauptungsbelastete Parteien anerkannt, gleichzeitig aber die Anforderungen an die Bestreitung durch die Beschwerdeführerin präzisiert. Es stellte fest, dass die Beschwerdegegnerinnen spezifische Rechnungen der Kanzlei im Zusammenhang mit den beanstandeten Leistungen identifiziert hatten. Die Beschwerdeführerin habe dies jedoch nicht hinreichend konkret bestritten, sondern sich lediglich auf eine allgemeine Unsubstantiierung berufen.
    • Prinzip des qualifizierten Bestreitens bei Informationsgefälle: Das Bundesgericht bestätigte die obergerichtliche Anwendung des Prinzips des qualifizierten Bestreitens. Bei einem erheblichen Informationsgefälle zwischen den Parteien (hier: die Anwaltskanzlei als Rechnungsstellerin verfügt über detailliertes Wissen über die erbrachten Leistungen) kann von der informationsüberlegenen Partei verlangt werden, dass sie Behauptungen der Gegenpartei nicht pauschal bestreitet, sondern konkret aufzeigt, welche Rechnungspositionen nicht zu den beanstandeten Leistungen gehören. Dies gilt umso mehr, als das Wissen der Verwaltungsräte aufgrund ihres Interessenkonflikts den Gesellschaften nicht zugerechnet werden konnte.
    • Das Bundesgericht bekräftigte, dass das Obergericht hierin keine Verletzung von Art. 8 ZGB (Beweislast), Art. 55 Abs. 1 ZPO (Verhandlungsmaxime) oder Art. 9 BV (Willkürverbot) begangen hatte und die Bemessung der rückzahlbaren Beträge somit bundesrechtskonform war.

IV. Querverweise auf ähnliche Entscheidungen

Obwohl der Urteilstext keine spezifischen BGE-Nummern für die Grundsätze zum Interessenkonflikt des Verwaltungsrats nennt, baut das Bundesgericht auf einer etablierten Rechtsprechung auf. Die Beurteilung der Vertretungsmacht bei Interessenkonflikten von Organen ist ein wiederkehrendes Thema im Gesellschaftsrecht. Grundlegend ist, dass Organe im Interesse der Gesellschaft handeln müssen (Art. 717 Abs. 1 OR). Geschäfte, die ausschliesslich oder primär den privaten Interessen von Organmitgliedern dienen und einen qualifizierten Interessenkonflikt darstellen, fallen nicht unter die Vertretungsmacht der Organe, insbesondere wenn der Dritte dies erkennt oder erkennen muss.

Zum Prinzip des qualifizierten Bestreitens bei Informationsgefälle verweist das Bundesgericht explizit auf jüngere eigene Praxis (Urteile 4A_495/2024 vom 7. Januar 2025 E. 5.1; 4A_489/2024 vom 25. November 2024 E. 1.7.2.2; 4A_36/2021 vom 1. November 2021 E. 5.1.3, nicht publ. in: BGE 148 III 11). Diese Entscheidungen untermauern die Notwendigkeit für eine Partei, Behauptungen der Gegenpartei nicht pauschal zu bestreiten, sondern auf die konkreten Angaben der Prozessgegnerin einzugehen und darzulegen, weshalb die eigene Sicht der Dinge zutrifft, wenn sie aufgrund ihrer eigenen Kenntnisse dazu in der Lage ist.

V. Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte

Das Bundesgericht bestätigt die Verpflichtung einer Anwaltskanzlei zur Rückzahlung von Honoraren wegen ungerechtfertigter Bereicherung, wenn: 1. Die beauftragenden Verwaltungsräte einen qualifizierten Interessenkonflikt hatten und die Anwaltskanzlei diesen Konflikt erkannte. Ein solcher Konflikt liegt vor, wenn die Mandatierung nicht dem Gesellschaftsinteresse (z.B. Vermeidung einer konkursamtlichen Liquidation bei behebbaren Mängeln) dient, sondern primär den privaten Zielen der Verwaltungsräte. 2. Bei fehlender Vertretungsmacht der Organe kommt kein gültiges Auftragsverhältnis zustande, was zur Rechtsgrundlosigkeit der Zahlungen führt. 3. Im Zivilprozess kann von einer Partei (hier: der Anwaltskanzlei als Rechnungsstellerin) ein qualifiziertes Bestreiten von Behauptungen der Gegenpartei verlangt werden, wenn ein Informationsgefälle besteht und die Partei aufgrund ihrer eigenen Kenntnisse die Behauptungen konkret widerlegen könnte.