Hier ist eine detaillierte Zusammenfassung des Bundesgerichtsurteils:
Bundesgerichtsurteil 2F_12/2025 und 2C_72/2025 vom 4. September 2025
Parteien:
* Beschwerdeführer: A.__ (französischer Staatsangehöriger, geb. 1958)
* Beschwerdegegnerin: Office cantonal de la population et des migrations du canton de Genève
Gegenstand: Niederlassungsbewilligung, Caducité (Erlöschen), Fristwiederherstellung
I. Sachverhalt und Verfahrensgang (Zusammenfassung)
A._, seit 2012 in der Schweiz und seit 2017 im Besitz einer Niederlassungsbewilligung, sah sich einer Verfügung des Genfer Migrationsamtes vom 6. Oktober 2022 gegenüber, welche das Erlöschen seiner Niederlassungsbewilligung feststellte und eine Abmeldung aus der Schweiz per 15. Januar 2015 registrierte. Das erstinstanzliche Verwaltungsgericht hiess seine Beschwerde gut und hob die Verfügung auf, was jedoch von der Cour de justice des Kantons Genf am 3. Dezember 2024 auf Beschwerde des Migrationsamtes hin wieder aufgehoben wurde. Die Cour de justice bestätigte das Erlöschen der Bewilligung, da A._ seinen Lebensmittelpunkt seit Januar 2015 nicht in Genf nachgewiesen hatte.
A._ reichte daraufhin am 28. Januar 2025 eine Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten sowie eine subsidiäre Verfassungsbeschwerde beim Bundesgericht ein, verbunden mit Gesuchen um unentgeltliche Rechtspflege und aufschiebende Wirkung. Nach Gewährung der aufschiebenden Wirkung und einer Aufforderung zur Leistung eines Kostenvorschusses resp. zum Ausfüllen des Rechtshilfeformulars erbat A._ eine Fristverlängerung. Das Bundesgericht setzte ihm daraufhin eine letzte Frist bis zum 7. April 2025 mit dem Hinweis, dass die Beschwerde bei Nichtbeachtung als unzulässig erklärt würde. Da dieses Schreiben mit dem Vermerk "non réclamé" zurückgesandt wurde, erklärte das Bundesgericht die Beschwerde 2C_72/2025 am 25. April 2025 als unzulässig.
Am 17. Juni 2025 beantragte A.__ (vertreten durch einen Anwalt) die Wiederherstellung der Frist und die Aufhebung des Urteils 2C_72/2025. Er legte eine Bescheinigung der Schweizerischen Post vom 30. Mai 2025 vor, welche bestätigte, dass er über die Hinterlegung des Schreibens vom 18. März 2025 nie informiert worden war. Er reichte gleichzeitig das Rechtshilfeformular mit den nötigen Belegen ein. Aufgrund der eingereichten Unterlagen zum Rechtshilfegesuch wurde auf die Erhebung eines Kostenvorschusses stillschweigend verzichtet.
II. Rechtliche Erwägungen des Bundesgerichts
A. Wiederherstellung der Frist (Verfahren 2F_12/2025)
- Grundlagen und Anwendung von Art. 50 BGG:
- Das Bundesgericht prüft das Gesuch um Fristwiederherstellung gemäss Art. 50 Abs. 1 BGG. Dieser Artikel erlaubt die Wiederherstellung einer Frist, wenn eine Partei oder ihr Vertreter unverschuldet daran gehindert wurde, innert Frist zu handeln. Das Gesuch muss innert 30 Tagen nach Wegfall des Hindernisses gestellt und die versäumte Handlung nachgeholt werden.
- Art. 50 Abs. 2 BGG hält fest, dass die Fristwiederherstellung auch nach der Zustellung eines Urteils gewährt werden kann, wobei das Urteil in diesem Fall aufzuheben ist. Dies stellt eine Ausnahme vom Grundsatz der Rechtskraft von Bundesgerichtsurteilen (Art. 61 BGG) dar.
- Im vorliegenden Fall legt der Beschwerdeführer eine Postbescheinigung vor, die belegt, dass er vom Versand des Schreibens vom 18. März 2025 ("non réclamé") nie Kenntnis erlangt hat. Das Gericht stellt fest, dass dies ein Ereignis darstellt, das den Beschwerdeführer unverschuldet am fristgerechten Handeln hinderte.
- Entscheid: Die Frist zur Einreichung des Rechtshilfeformulars wird wiederhergestellt. Folglich wird das Urteil 2C_72/2025 vom 25. April 2025 aufgehoben. Angesichts des nun ordnungsgemäss eingereichten Rechtshilfeformulars wird auf die Erhebung eines Kostenvorschusses verzichtet, und die ursprüngliche Beschwerde in der Sache 2C_72/2025 wird neu beurteilt.
B. Beurteilung der Beschwerde in der Sache (Verfahren 2C_72/2025)
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Zulässigkeit der Beschwerde:
- Beschwerdeart: Die subsidiäre Verfassungsbeschwerde ist unzulässig, da die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten gemäss Art. 83 lit. c Ziff. 2 BGG grundsätzlich offensteht. Dies ist der Fall, weil ein Anspruch auf den Erhalt einer Niederlassungsbewilligung besteht (Art. 34 Abs. 1 AIG), und deren Erlöschen somit mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten angefochten werden kann.
- Feststellungsbegehren: Das Begehren des Beschwerdeführers, festzustellen, dass er die Schweiz nie verlassen habe, ist als Feststellungsbegehren unzulässig. Feststellungsbegehren sind nur zulässig, wenn Leistungs- oder Gestaltungsbegehren ausgeschlossen sind (Subsidiaritätsprinzip). Da der Beschwerdeführer die Aufhebung des vorinstanzlichen Urteils und die Erneuerung seiner Bewilligung beantragt hat, sind solche Gestaltungsbegehren möglich.
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Kognition und Sachverhaltsfeststellung:
- Das Bundesgericht wendet das Bundesrecht frei an (Art. 95 lit. a, 106 Abs. 1 BGG), während kantonales Recht nur auf Willkür hin überprüft wird (Art. 106 Abs. 2 BGG).
- Das Bundesgericht legt seinem Urteil den von der Vorinstanz festgestellten Sachverhalt zugrunde (Art. 105 Abs. 1 BGG). Sachverhaltsrügen sind nur zulässig, wenn die Feststellungen offensichtlich unrichtig (willkürlich) sind oder auf einer Rechtsverletzung beruhen (Art. 97 Abs. 1 BGG). Neue Tatsachen oder Beweismittel sind unzulässig (Art. 99 Abs. 1 BGG). Die umfangreiche eigene Sachverhaltsdarstellung des Beschwerdeführers wird daher nicht berücksichtigt.
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Rüge der Verletzung des rechtlichen Gehörs durch unerlaubte Beweismittel (Art. 29 Abs. 1 BV):
- Argumentation des Beschwerdeführers: A.__ rügt, das Migrationsamt habe bei französischen Steuerbehörden ohne sein Wissen Informationen über seine Adresse eingeholt, was die Verwendung unerlaubt erlangter Beweismittel darstelle und sein Recht auf ein faires Verfahren verletze.
- Beurteilung des Bundesgerichts: Das Bundesgericht verweist auf die Rechtsprechung, wonach der Grundsatz des fairen Verfahrens die Verwendung unerlaubt erlangter Beweismittel verbietet (BGE 139 II 7 E. 6.4.1). Im vorliegenden Fall stellt das Bundesgericht jedoch fest, dass die Vorinstanz (Cour de justice) die vom französischen Steueramt erhaltenen Informationen nicht zur Begründung ihres Urteils herangezogen hat. Da die Beweismittel im Rahmen der Beurteilung des Erlöschens der Niederlassungsbewilligung keine Rolle spielten, liegt keine Verletzung des rechtlichen Gehörs vor. Die Rüge wird abgewiesen.
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Rüge der Verletzung des rechtlichen Gehörs wegen Anhörung ohne Rechtsbeistand (Art. 29 Abs. 1 BV, Art. 78 lit. f LPA/GE):
- Argumentation des Beschwerdeführers: A.__ macht geltend, er sei an der Anhörung vor der Cour de justice am 3. September 2024 ohne Anwalt angehört worden, obwohl das Gericht wusste, dass sein Anwalt am Vortag das Mandat niedergelegt hatte. Dies verletze sein Recht auf rechtliches Gehör und die kantonale Bestimmung Art. 78 lit. f LPA/GE, welche bei "démission" (Rücktritt) des Anwalts eine Verfahrenssistierung vorsehe.
- Beurteilung des Bundesgerichts:
- Kantonales Recht: Das Bundesgericht verweist auf die Genfer Rechtsprechung, wonach der Begriff "démission" in Art. 78 lit. f LPA/GE nicht die einfache Mandatsniederlegung, sondern die Streichung des Anwalts aus dem Anwaltsregister meint. Da der Beschwerdeführer keine solche Streichung geltend macht, sind die Voraussetzungen der kantonalen Norm nicht erfüllt. Eine willkürliche Anwendung des kantonalen Rechts wird vom Beschwerdeführer nicht dargelegt und vom Bundesgericht auch nicht festgestellt.
- Verfassungsrecht (Art. 29 Abs. 2 BV): Das Recht auf rechtlichen Beistand ist grundsätzlich Teil des verfassungsrechtlichen Gehörsanspruchs. Allerdings schützt der Rechtsmissbrauchsgrundsatz (Treu und Glauben) nicht, wer einen angeblichen Verfahrensmangel sofort hätte melden können, dies aber unterlässt, um ihn später im Rechtsmittelverfahren geltend zu machen (BGE 132 II 485 E. 4.3). Der Beschwerdeführer hätte an der Anhörung eine Verschiebung der Verhandlung beantragen können, was er jedoch nicht getan hat. Es liegt in seiner eigenen Verantwortung, diese Möglichkeit nicht genutzt zu haben. Die Rüge wird abgewiesen.
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Rüge der Verletzung von Art. 61 Abs. 2 AIG (Erlöschen der Niederlassungsbewilligung):
- Anwendbares Recht: Obwohl die Revision des AIG (neu AIG) am 1. Januar 2019 in Kraft trat, ist vorliegend das alte Recht anwendbar, da die massgebenden Sachverhalte vor diesem Datum liegen. Die einschlägigen Bestimmungen von Art. 61 Abs. 1 lit. a und Abs. 2 LEtr/AIG haben jedoch denselben Inhalt wie die neuen Bestimmungen der LEI/AIG, sodass die Anwendung des neuen Rechts durch die Vorinstanz ohne Belang ist.
- Rechtliche Grundlagen zum Erlöschen:
- Art. 61 Abs. 1 lit. a AIG besagt, dass die Niederlassungsbewilligung endet, wenn der Ausländer seinen Wegzug aus der Schweiz erklärt.
- Art. 61 Abs. 2 AIG statuiert, dass die Niederlassungsbewilligung automatisch nach sechs Monaten erlischt, wenn der Ausländer die Schweiz verlässt, ohne sich abzumelden. Eine allfällige behördliche Feststellung hat rein deklaratorischen Charakter.
- Die Niederlassungsbewilligung (Art. 34 Abs. 1 AIG) gewährt den günstigsten Status. Die Aufrechterhaltung setzt eine minimale physische Präsenz in der Schweiz voraus (BGE 145 II 322 E. 2.2). Massgebend ist der Lebensmittelpunkt des Ausländers, nicht bloss kurzfristige Besuche zur Unterbrechung der Sechsmonatsfrist, selbst wenn eine Wohnung in der Schweiz unterhalten wird (BGE 145 II 322 E. 3).
- Anwendung auf den Fall:
- Die Vorinstanz (Cour de justice) hat aufgrund einer Gesamtwürdigung der Umstände (faisceau d'indices) festgestellt, dass der Beschwerdeführer seinen Lebensmittelpunkt seit Januar 2015 nicht in der Schweiz aufrechterhalten hat.
- Rue V.__: Ein Untermietvertrag wurde abgeschlossen, aber nie vollzogen. Die Vorinstanz ging davon aus, dass dies der Vortäuschung eines Wohnsitzes im Hinblick auf eine Einbürgerung diente.
- Rue W.__: Eine Untersuchung zeigte, dass sich dort lediglich ein einfacher Raum mit Sofa und Duschgelegenheit befand, in dem der Beschwerdeführer zudem zugab, nur "einige Male" übernachtet zu haben.
- Chemin X._ und Route Y._: Für diese Adressen fehlten stichhaltige Beweise. Die vom Beschwerdeführer vorgelegten Mietzahlungsbescheinigungen im Namen der Gesellschaft B._ SA (Eigentümerin an der Route Y._) wurden als nicht beweiskräftig erachtet, da C._, der diese Bescheinigungen ausstellte, keine Vertretungsbefugnis für B._ SA hatte.
- Freundin D.__: Die attestierten Ausgaben ihrer damaligen Freundin in der Schweiz für ihn waren unpräzise und erlaubten es nicht, einen Wohnsitz und Lebensmittelpunkt bei ihr in Genf zu etablieren.
- Fehlende Belege: Generell konnte der Beschwerdeführer seit 2015 keine Belege für Einnahmen und Ausgaben im Alltag in der Schweiz vorlegen, obwohl er dazu aufgefordert wurde.
- Schlussfolgerung der Vorinstanz: Es gab keine Anhaltspunkte, die die Aufrechterhaltung eines Lebensmittelpunkts in der Schweiz seit Januar 2015 belegten. Das Erlöschen der Niederlassungsbewilligung wurde zu Recht bestätigt. Die spätere Abmeldung des Beschwerdeführers aus medizinischen Gründen (August 2018) ist irrelevant, da die Bewilligung gemäss Art. 61 Abs. 2 AIG bereits lange vorher (spätestens Juli 2015) erloschen war.
- Einwände des Beschwerdeführers: Die Einwände des Beschwerdeführers gegen die Beweiswürdigung der Vorinstanz sind appellatorischer Natur und legen keine Willkür dar. So ist seine Behauptung, sein "atypisches Profil" mache einen einfachen Schlafplatz an der Rue W._ zum Lebensmittelpunkt, unerheblich, da er selbst nur gelegentliche Übernachtungen zugab. Die Ablehnung der Atteste von C._ beruhte auf fehlender Vertretungsbefugnis, nicht auf einer angenommenen Gefahr der Falschaussage. Auch die mangelnde Präzision der Atteste von D.__ und das Fehlen von Belegen für Lebenshaltungskosten seit 2015 werden nicht substanziiert bestritten.
- Entscheid: Die Cour de justice hat Art. 61 Abs. 2 AIG nicht verletzt, indem sie das Erlöschen der Niederlassungsbewilligung feststellte. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten wird abgewiesen.
III. Zusammenfassung des Ergebnisses und der Kostenfolgen
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Verfahren 2F_12/2025 (Fristwiederherstellung): Das Gesuch um Fristwiederherstellung wird gutgeheissen, das Urteil 2C_72/2025 vom 25. April 2025 aufgehoben. Dem Beschwerdeführer werden keine Gerichtskosten auferlegt, und seinem Rechtsvertreter wird eine Parteientschädigung von CHF 1'000.- zu Lasten des Bundesgerichts zugesprochen. Das Rechtshilfegesuch für dieses Verfahren wird hinfällig.
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Verfahren 2C_72/2025 (Beschwerde in der Sache):
- Die subsidiäre Verfassungsbeschwerde wird als unzulässig erklärt.
- Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten wird, soweit zulässig, abgewiesen.
- Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen, da die Beschwerde von vornherein aussichtslos war.
- Dem Beschwerdeführer werden reduzierte Gerichtskosten von CHF 1'000.- auferlegt. Eine Parteientschädigung wird nicht zugesprochen.
Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:
Das Bundesgericht hob das vorherige Unzulässigkeitsurteil (2C_72/2025) aufgrund eines unverschuldeten Zustellungsmangels der Post auf und stellte die Frist wieder her. In der Sache wies es die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten ab. Es befand, dass die Beschwerde zulässig war (im Gegensatz zur subsidiären Verfassungsbeschwerde), aber das Feststellungsbegehren unzulässig. Es verneinte eine Verletzung des rechtlichen Gehörs, da die Vorinstanz fragliche Beweismittel nicht verwertet und der Beschwerdeführer sein Recht auf Anwaltsbeistand durch Untätigkeit verwirkt hatte. Das Gericht bestätigte das Erlöschen der Niederlassungsbewilligung, da der Beschwerdeführer seinen Lebensmittelpunkt seit 2015 nicht in der Schweiz nachweisen konnte und die Vorinstanz dies aufgrund einer willkürfreien Beweiswürdigung festgestellt hatte. Das Rechtshilfegesuch für die Sachprüfung wurde wegen Aussichtslosigkeit abgewiesen.