Detaillierte Zusammenfassung des Urteils 6B_767/2024 des Schweizerischen Bundesgerichts vom 17. September 2025
1. Einleitung
Das vorliegende Urteil des Bundesgerichts, 1. Strafrechtliche Abteilung, vom 17. September 2025, Aktenzeichen 6B_767/2024, befasst sich mit einem Fall von schwerer Verkehrsregelverletzung (Art. 90 Abs. 2 des Strassenverkehrsgesetzes, SVG) durch einen Polizeibeamten während einer Einsatzfahrt. Der Beschwerdeführer, A.__, wurde von der Genfer Justiz wegen Verletztung der Verkehrsregeln zu einer bedingten Geldstrafe verurteilt, wogegen er sich vor Bundesgericht zur Wehr setzte, insbesondere unter Berufung auf die Sonderregelung für Einsatzfahrzeuge gemäss Art. 100 Ziff. 4 SVG und Art. 52 des Strafgesetzbuches (StGB) betreffend den Verzicht auf Bestrafung bei geringfügiger Schuld.
2. Sachverhalt und Prozessgeschichte
2.1. Sachverhalt (Feststellungen der Vorinstanz)
Am Morgen des 26. Dezember 2019 wurde die Polizeipatrouille von A._, B._ und C._ in Genf von einem Passanten auf das gefährliche Fahrverhalten eines Mannes (E._) in einem grauen D._-Fahrzeug aufmerksam gemacht, der zu schnell gefahren und Strassen gegen die Einbahn benutzt hatte. Als sich die Patrouille mit Blaulicht und "Stop Police"-LED näherte, fuhr E._ langsam los und beschleunigte dann, woraufhin die Polizei die Verfolgung aufnahm und die Zentrale informierte.
Während der Verfolgung, bei der Blaulicht und Sirene eingeschaltet waren, hielt A.__ als Fahrer die gebotene Vorsicht nicht ein:
- Geschwindigkeitsüberschreitungen: Auf einer Tempo-30-Zone fuhr das Polizeifahrzeug zunächst zwischen 34.5 und 62 km/h, dann bis zu 70.4 km/h (jeweils ohne Sicherheitsmarge). Auf einem Tempo-50-Abschnitt erreichte die Geschwindigkeit beim Überfahren von Kreuzungen bis zu 70.6 km/h. Später, auf der Rue Z1._ und der Route de X2._ (ebenfalls Tempo-50-Zonen), wurden Geschwindigkeiten von 91.7 km/h, 100.2 km/h und 113.2 km/h (ohne Sicherheitsmarge) gemessen. Die Geschwindigkeitsmessungen des RAG-Datenschreibers zeigten, dass das Fahrzeug über eine Strecke von ca. 730 Metern und während rund 28 Sekunden mehrfach über 100 km/h und über 70 Sekunden lang über 89 km/h (ebenfalls ohne Sicherheitsmarge) fuhr. Nach Abzug der Sicherheitsmarge von 14 km/h wurde die erlaubte Geschwindigkeit zweimal fast verdoppelt (fast 100 km/h in 50 km/h-Zone).
- Missachtung von Lichtsignalen: Das Polizeifahrzeug überfuhr drei Kreuzungen bei Rotlicht, ohne die Geschwindigkeit zu reduzieren. Beim Überfahren einer Kreuzung (Quai du W1._ / Rue du W1._) musste ein Fussgänger rennen, um dem Fahrzeug auszuweichen. An einer anderen Kreuzung (Rue Z1._ / Rue des X1._) fuhr A._ mit hoher Geschwindigkeit bei Rotlicht, obwohl die Sicht auf den Querverkehr, insbesondere von der Rue des X1._ kommend, als "nahezu null" beurteilt wurde.
- Gefährdung: Obwohl der Verkehr nicht besonders dicht war, zirkulierten andere Fahrzeuge und es waren Fussgänger auf den Trottoirs. E.__ stiess während der Flucht mit zwei korrekt fahrenden Fahrzeugen zusammen.
- E.__s Zustand: E.__ war ohne Führerausweis unterwegs und stand unter erheblichem Alkohol- und THC-Einfluss (0.71 mg/l Alkohol, 2.9 µg/l THC im Blut).
Die Verfolgung endete, als E._ gegen den Trottoir gedrängt wurde und nach kurzer Flucht von A._ gefasst werden konnte. A.__ ist Polizist und hat ein tadelloses Strafregister.
2.2. Prozessgeschichte
Das Genfer Polizeigericht verurteilte A._ am 11. Oktober 2023 wegen schwerer Verkehrsregelverletzung (Art. 90 Abs. 2 SVG) zu einer Busse von 1'500 CHF. Die kantonale Appellationsinstanz (Chambre pénale d'appel et de révision) wies die Berufung von A._ ab und hiess jene der Staatsanwaltschaft teilweise gut. Sie verurteilte A._ zu einer bedingten Geldstrafe von 50 Tagessätzen à 150 CHF bei einer Probezeit von zwei Jahren. A._ legte daraufhin Beschwerde in Strafsachen beim Bundesgericht ein.
3. Rechtliche Würdigung durch das Bundesgericht
3.1. Anwendbare Rechtsgrundlagen und allgemeine Grundsätze
Das Bundesgericht prüfte zunächst die Anwendung von Art. 90 Abs. 2 SVG und insbesondere die Sonderregelung für Einsatzfahrzeuge in Art. 100 Ziff. 4 SVG in der seit dem 1. Oktober 2023 geltenden Fassung (welche gemäss dem lex mitior-Prinzip, Art. 2 StGB, zur Anwendung kam).
- Art. 90 Abs. 2 SVG: Bestraft, wer durch eine grobe Verletzung von Verkehrsregeln eine ernstliche Gefahr für die Sicherheit anderer schafft oder ein solches Risiko eingeht.
- Art. 100 Ziff. 4 SVG (neue Fassung): Ein Lenker eines Fahrzeugs des Feuerwehr-, Sanitäts-, Polizei- oder Zolldienstes ist nicht strafbar, wenn er bei einer dringlichen oder aus taktischen Gründen notwendigen Dienstfahrt Verkehrsregeln oder besondere Verkehrsvorschriften verletzt, sofern er die unter den gegebenen Umständen gebotene Sorgfalt beachtet. Bei dringlichen Dienstfahrten ist er nur straflos, wenn er die erforderlichen Warnsignale abgegeben hat, es sei denn, diese gefährden ausnahmsweise die Erfüllung des gesetzlichen Auftrags. Hat der Lenker die gebotene Sorgfalt nicht beachtet oder bei einer dringlichen Dienstfahrt die erforderlichen Warnsignale nicht abgegeben, so bleibt er strafbar, die Strafe muss aber gemildert werden.
- Botschaft des Bundesrates: Die Revision des SVG hat die Möglichkeit der Strafmilderung in ein Obligatorium umgewandelt und das Ermessen des Richters eingeschränkt, um der besonderen Situation von Einsatzfahrzeuglenkern Rechnung zu tragen.
- Verhältnismässigkeitsprinzip: Je grösser die durch die Verkehrsregelverletzung verursachte Gefahr, desto höher die Sorgfaltspflicht des Einsatzfahrzeuglenkers. Wer normale Vortrittsregeln missachtet, muss besondere Vorsichtsmassnahmen treffen, insbesondere die Geschwindigkeit reduzieren, damit andere Verkehrsteilnehmer die Annäherung des Einsatzfahrzeugs wahrnehmen können (Querverweis auf BGE 6B_738/2012 E. 2.3.2). Eine dringliche Fahrt, bei der Geschwindigkeiten im Bereich eines Raserdelikts (Art. 90 Abs. 4 SVG) erreicht werden, gilt grundsätzlich immer als unverhältnismässig, selbst wenn ein hohes Rechtsgut in Gefahr ist und Warnsignale verwendet wurden (Querverweis auf BGE 6B_1161/2018 E. 1.2.2).
- DETEC-Merkblatt: Das Warnen anderer Verkehrsteilnehmer entbindet den Einsatzfahrzeuglenker nicht von der Pflicht, sein Fahrverhalten den Umständen anzupassen. Besondere Sorgfalt ist beim Überfahren von Kreuzungen bei Rotlicht geboten; der Lenker muss genügend langsam fahren, um rechtzeitig anhalten zu können, falls andere Verkehrsteilnehmer die Signale nicht bemerken oder nicht reagieren. Beschleunigt werden darf erst, wenn die gefahrlose Überfahrt gesichert ist.
- Genfer Dienstanweisungen: Diese Anweisungen der Staatsanwaltschaft und Polizei Genf, obwohl nur von indikativem Wert, können zur Beurteilung der gebotenen Sorgfalt herangezogen werden. Sie sehen vor, dass die Geschwindigkeit 1.5-fach die Limite nicht überschreiten sollte. Nur in Ausnahmefällen (Rettung von Menschenleben, Verfolgung eines mutmasslichen lebensgefährdenden Flüchtigen) kann eine 2-fache Überschreitung akzeptabel sein. Das Verhältnismässigkeitsprinzip geht der Auftragserfüllung vor.
3.2. Anwendung auf den konkreten Fall (Würdigung der gebotenen Sorgfalt)
Das Bundesgericht schloss sich den Feststellungen und der Würdigung der kantonalen Instanz an. Es war unbestritten, dass es sich um eine dringliche Dienstfahrt handelte und A._ Blaulicht und Sirene eingeschaltet hatte. Die kantonale Instanz kam jedoch zum Schluss, dass A._ die gebotene Sorgfalt nicht beachtet hatte, was vom Bundesgericht bestätigt wurde:
- Keine Lebensgefahr: Der Zweck der Verfolgung war nicht die Rettung von Menschenleben oder die Ergreifung eines mutmasslichen Täters einer Straftat gegen Leib und Leben. Die ursprünglichen Meldungen bezogen sich auf Strassenverkehrs-, Waffen- oder allenfalls Diebstahlsdelikte. Konkrete Anhaltspunkte für eine Lebensgefahr für Dritte bestanden nicht.
- Massiv unverhältnismässige Geschwindigkeit: Obwohl eine Überschreitung des 1.5-fachen der Geschwindigkeit in solchen Fällen noch als verhältnismässig gelten könnte (sofern Verkehr und Umstände es zulassen), überschritt A.__ dreimal die 75 km/h und zweimal beinahe die 100 km/h (nach Abzug der Sicherheitsmarge), was dem Doppelten der erlaubten Geschwindigkeit (50 km/h) entsprach. Diese Geschwindigkeiten näherten sich der Grenze eines Raserdelikts gemäss Art. 90 Abs. 3 und 4 SVG. Wie die Bundesgerichtspraxis festhält, ist eine Einsatzfahrt, bei der solche Schwellen erreicht werden, in der Regel unverhältnismässig.
- Gefährliche Umstände: Die Fahrt fand in einer belebten Stadt statt, auf Strassen mit Trottoirs, Radwegen und Fussgängerübergängen. Obwohl der Verkehr nicht sehr dicht war, zeigten die Videos andere Verkehrsteilnehmer und Fussgänger.
- Rote Ampeln ohne Verlangsamung: A.__ überfuhr zwei Kreuzungen bei Rotlicht ohne vorherige Verlangsamung, einmal mit fast 100 km/h (nach Abzug der Sicherheitsmarge) und einer "nahezu null" Sicht auf den Querverkehr. Die Assistenz des Beifahrers, der nur den rechten Verkehr und die Kommunikation mit der Zentrale im Blick hatte, konnte diese Risiken nicht verhindern.
- Irrelevante Faktoren: Die regelmässigen Meldungen an die Zentrale, das subjektive Sicherheitsempfinden der Kollegen oder das Ausbleiben eines schweren Unfalls änderten nichts an der objektiven Risikobereitschaft und der Missachtung der Sorgfaltspflicht.
Das Bundesgericht wies die Rügen des Beschwerdeführers zurück, wonach die Genfer Dienstanweisungen nicht mehr als indikative Werte dienen könnten, da sie die legislative Absicht (Erlaubnis zu Geschwindigkeitsüberschreitungen) widersprächen. Das Bundesgericht bekräftigte den indikativen Wert und betonte, dass die kantonale Instanz die konkreten Umstände des Falles sehr wohl geprüft hatte. Auch die Versuche des Beschwerdeführers, eigene Sachverhaltsdarstellungen (z.B. zur Gefährdung durch E.__, zur angeblichen Lebensgefahr, zur Unterstützung durch den Kollegen oder zur Risikokontrolle) vorzubringen, wurden als unzulässige appellatorische Kritik oder als Widerspruch zu den verbindlichen Sachverhaltsfeststellungen der Vorinstanz abgewiesen.
3.3. Verzicht auf Strafe (Art. 52 StGB)
Der Beschwerdeführer rügte weiter, er hätte gemäss Art. 52 StGB (Verzicht auf Bestrafung bei geringfügiger Schuld und geringfügigen Folgen) von einer Strafe befreit werden müssen.
- Definition Art. 52 StGB: Der Verzicht auf eine Strafe ist möglich, wenn die Schuld des Täters und die Folgen seiner Tat geringfügig sind. Die Beurteilung erfolgt im Vergleich zu typischen Fällen der betreffenden Straftat.
- Ablehnung durch Bundesgericht: Die kantonale Instanz hatte die Schuld und die Folgen als nicht geringfügig beurteilt, da A.__ nicht nur massiv zu schnell gefahren war, sondern auch zwei Kreuzungen bei Rotlicht ohne Verlangsamung und mit nur teilweiser Sicht überfahren hatte, wodurch er die öffentliche Sicherheit gravierend gefährdet hatte. Das Bundesgericht bestätigte diese Einschätzung. Die Schuld des Beschwerdeführers sei nicht geringfügig, zumal er sich der Grenze eines Raserdelikts näherte und rote Ampeln missachtete, ohne dass E.__s Verhalten ein solches Mass an Unvorsichtigkeit rechtfertigte. Der Umstand, dass kein Unfall geschehen ist, ändert nichts an der Schwere des verursachten Risikos und rechtfertigt keinen Strafverzicht.
4. Schlussfolgerung des Bundesgerichts
Das Bundesgericht kam zum Schluss, dass die kantonale Instanz weder Bundesrecht verletzt hatte, indem sie die gebotene Sorgfalt des Beschwerdeführers als nicht eingehalten erachtete, noch, indem sie die Anwendung von Art. 52 StGB ablehnte. Die Beschwerde wurde, soweit zulässig, abgewiesen. Der Beschwerdeführer hatte die Gerichtskosten zu tragen.
5. Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte
- Keine Straflosigkeit für Einsatzfahrzeuglenker trotz Blaulicht/Sirene bei fehlender Sorgfalt: Ein Polizeibeamter, der bei einer Verfolgung massive Geschwindigkeitsüberschreitungen (teilweise das Doppelte der Limite) begeht und mehrfach rote Ampeln ohne Verlangsamung überfährt, handelt nicht mit der gebotenen Sorgfalt im Sinne von Art. 100 Ziff. 4 SVG. Dies gilt insbesondere, wenn keine unmittelbare Lebensgefahr für Dritte besteht und die Verfolgung auf mutmassliche Verkehrs- oder Vermögensdelikte zurückgeht.
- Strafmilderungspflicht: Obwohl die Straflosigkeit ausgeschlossen ist, führt die Anwendung der neuen Fassung von Art. 100 Ziff. 4 SVG zu einer obligatorischen Strafmilderung, welche die Vorinstanz berücksichtigt hatte (Reduktion von 120 auf 50 Tagessätze).
- Verhältnismässigkeitsprinzip überwiegt: Das Erreichen von Geschwindigkeiten im Bereich eines Raserdelikts (Art. 90 Abs. 4 SVG) ist grundsätzlich unverhältnismässig, selbst bei einer dringlichen Einsatzfahrt und abgegebenen Warnsignalen.
- Kein Verzicht auf Strafe bei schwerwiegender Gefährdung: Die objektive Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer durch das rücksichtslose Fahrverhalten war erheblich, weshalb die Schuld und die Folgen der Tat nicht als geringfügig im Sinne von Art. 52 StGB angesehen werden können, auch wenn kein Unfall eingetreten ist.