Zusammenfassung von BGer-Urteil 9C_589/2024 vom 12. November 2025

Es handelt sich um ein experimentelles Feature. Es besteht keine Gewähr für die Richtigkeit der Zusammenfassung.

Gerne fasse ich das bereitgestellte Urteil des schweizerischen Bundesgerichts detailliert zusammen:

Bundesgericht, III. öffentlich-rechtliche Abteilung Urteil 9C_589/2024, 9C_605/2024 vom 12. November 2025 (Berufliche Vorsorge, Anzeigepflichtverletzung und Erwerbsunfähigkeit in der Säule 3a)

1. Parteien und Streitgegenstand:

Das Bundesgericht hatte zwei Beschwerden zu beurteilen, die sich gegen dasselbe Urteil des Kantonalen Versicherungsgerichts des Kantons Waadt vom 17. September 2024 richteten. * Beschwerdeführer 9C_589/2024 (Beschwerdegegner 9C_605/2024): A.__ (der Versicherte). * Beschwerdeführerin 9C_605/2024 (Beschwerdegegnerin 9C_589/2024): AXA Vie SA (die Versicherin).

Streitgegenstand waren die Gültigkeit der Kündigung von zwei gebundenen Vorsorgeversicherungsverträgen (Säule 3a) durch die AXA Vie SA wegen angeblicher Anzeigepflichtverletzung des Versicherten sowie der Anspruch des Versicherten auf Prämienbefreiung bei Erwerbsunfähigkeit.

2. Sachverhalt:

A._, geboren 1985, schloss im November 2013 und September 2017 nacheinander zwei gemischte Lebensversicherungsverträge der gebundenen Vorsorge (Säule 3a, Policen Nr. xxx und yyy) mit AXA Vie SA ab. In den Gesundheitsfragebögen beider Policen verneinte A._ Fragen zu Gesundheitsstörungen, Behandlungen von über vier Wochen Dauer durch Ärzte, Chiropraktiker oder Psychologen sowie psychischen Beeinträchtigungen innerhalb der letzten zehn Jahre.

Im Dezember 2018 meldete sich A._ bei der Invalidenversicherung (IV) zur Früherfassung an und stellte im März 2019 einen Leistungsantrag. Eine psychiatrische Expertise vom Juni 2020 diagnostizierte ein Autismus-Spektrum-Störung (Asperger-Syndrom) und Dysthymie. Es wurde eine volle Arbeitsfähigkeit in einer angepassten Tätigkeit (selbstständige Tätigkeit mit wenig interprofessionellen Kontakten, in einem wohlwollenden, ruhigen und stressfreien Umfeld) bejaht, jedoch eine nullprozentige Arbeitsfähigkeit in seiner bisherigen Tätigkeit als selbstständiger Verkäufer seit 2019. Das IV-Amt lehnte einen Rentenanspruch ab (Invaliditätsgrad 27%). Auf Beschwerde von A._ hin sprach das Kantonale Versicherungsgericht des Kantons Waadt ihm jedoch mit Urteil vom 3. Juli 2023 eine halbe IV-Rente ab dem 1. Dezember 2020 zu (Invaliditätsgrad 56%). Dieses Urteil erwuchs in Rechtskraft.

Im Juli 2019 bzw. Januar 2020 meldete A._ der AXA Vie SA eine Erwerbsunfähigkeit. Daraufhin kündigte die AXA Vie SA die Verträge am 6. Februar 2020 mit der Begründung, A._ habe in den Gesundheitsfragebögen unzutreffende Angaben gemacht.

3. Vorinstanzliches Urteil:

Das Kantonale Versicherungsgericht des Kantons Waadt gab der Klage von A.__ vom 21. Oktober 2021 teilweise statt. Es erklärte die Kündigung der Vorsorgeverträge Nr. xxx und yyy durch die AXA Vie SA für ungültig. Es verneinte jedoch A.__s Anspruch auf Prämienbefreiung, da er in einer angepassten Tätigkeit stets eine volle Arbeitsfähigkeit besessen habe.

4. Erwägungen des Bundesgerichts:

Das Bundesgericht vereinigte die beiden Beschwerdeverfahren. Es wandte die Bestimmungen des Bundesgesetzes über den Versicherungsvertrag (VVG) in der bis zum 31. Dezember 2021 gültigen Fassung an (Art. 103a VVG a.F. i.V.m. Art. 1 Abs. 1 Tit. fin. ZGB), da diese Verträge der gebundenen Vorsorge (Säule 3a) grundsätzlich den Regeln des VVG unterliegen und diese die Vorschriften der Verordnung über die steuerliche Abzugsfähigkeit der Beiträge an anerkannte Formen der Vorsorge (OPP 3) sowie die Grundsätze der beruflichen Vorsorge ergänzen (vgl. dazu auch BGE 141 V 405 E. 3.2).

4.1. Zur Anzeigepflichtverletzung (AXA Vie SA's Beschwerde 9C_605/2024):

Das Bundesgericht prüfte, ob die AXA Vie SA die Verträge wirksam wegen Anzeigepflichtverletzung kündigen konnte.

  • Fristwahrung (Art. 6 Abs. 2 VVG a.F.): Die Kündigung der AXA Vie SA vom 6. Februar 2020 war fristgerecht für jene medizinischen Sachverhalte, die ihr am 10. Januar 2020 durch das AI-Dossier bekannt wurden. Dazu gehörten die psychiatrischen Behandlungen in der Adoleszenz und zwischen 2012 und 2014 sowie die Militäruntauglichkeit von 2006 wegen psychischer Beeinträchtigungen (depressive Reaktionen 2004/2005, Affektarmut). Später, am 6. Mai 2021 bzw. 25. Januar 2022, geltend gemachte weitere Kündigungsgründe (Asperger-Symptomatik seit der Kindheit, Suizidgedanken, Alkohol- und Cannabiskonsum) wurden als verspätet erachtet und daher nicht berücksichtigt. Das Bundesgericht hielt fest, dass die Kündigungserklärung präzise begründet werden muss (vgl. BGE 129 III 713 E. 2.1).

  • Inhaltliche Prüfung der Anzeigepflichtverletzung:

    • Psychiatrische Behandlung in der Adoleszenz: Die Vorinstanz hatte festgestellt, dass diese Behandlungen vor Mitte 2003 stattfanden. Die Gesundheitsfragebögen bezogen sich jedoch nur auf die letzten zehn Jahre vor ihrer Unterzeichnung (d.h. ab November 2003 bzw. September 2007). Folglich war A.__ nicht verpflichtet, diese früheren Behandlungen anzugeben. Das Bundesgericht bestätigte diese Auslegung.
    • Psychiatrische Behandlung zwischen 2012 und 2014: Diese Behandlung erfolgte in Form einer Paartherapie, die von A._s damaliger Ehefrau initiiert wurde und an der A._ sporadisch teilnahm. Die Fragen im Formular bezogen sich explizit auf persönliche Behandlungen. Das Bundesgericht befand, dass A.__ nach Treu und Glauben nicht davon ausgehen musste, diese Therapie, die eheliche Probleme betraf und nicht direkt seine persönliche Gesundheit, angeben zu müssen. Es erschien unglaubwürdig, dass AXA Vie SA die Versicherungen deswegen verweigert hätte.
    • Psychische Beeinträchtigungen 2004 und 2005 (depressive Reaktionen, Affektarmut) und Militäruntauglichkeit: Die Vorinstanz hatte diese als rein vorübergehende Beeinträchtigungen eingestuft (Trauer über den Tod des Vaters, Trennung), die keine längere psychologische Behandlung (nur wenige Sitzungen, Anxiolytika für knapp einen Monat) erforderten. A.__ durfte in gutem Glauben annehmen, dass diese kurzen depressiven Episoden keine erheblichen "Gesundheitsstörungen oder -beeinträchtigungen" im Sinne der Fragen darstellten. Die Militäruntauglichkeit basiert auf eigenen Kriterien und impliziert nicht per se eine anzeigepflichtige Gesundheitsbeeinträchtigung im Kontext der Versicherungsfragen. AXA Vie SA konnte diese Einschätzung der Vorinstanz nicht erfolgreich anfechten.
  • Schlussfolgerung zur Anzeigepflichtverletzung: Das Bundesgericht bestätigte die Einschätzung der Vorinstanz, dass die AXA Vie SA nicht berechtigt war, die Verträge wegen Anzeigepflichtverletzung zu kündigen. Die Beschwerde der AXA Vie SA (9C_605/2024) wurde daher abgewiesen.

4.2. Zum Anspruch auf Prämienbefreiung (A.__s Beschwerde 9C_589/2024):

Nachdem die Kündigung der Verträge für ungültig erklärt worden war, prüfte das Bundesgericht den Anspruch von A.__ auf Prämienbefreiung.

  • Vertragliche Definition der Erwerbsunfähigkeit: Gemäss Ziff. 1.1 der anwendbaren Versicherungsbedingungen (CGA) liegt Erwerbsunfähigkeit vor, wenn die versicherte Person infolge Krankheit oder Unfall an der Ausübung ihrer Profession oder einer anderen Erwerbstätigkeit gehindert ist und dadurch einen Erwerbseinbuss erleidet. Ziff. 1.2 präzisiert, dass der Grad der Erwerbsunfähigkeit auf Basis des Einkommensverlusts bestimmt wird, indem das Einkommen vor der Erwerbsunfähigkeit mit dem erzielbaren Einkommen auf einem ausgeglichenen Arbeitsmarkt verglichen wird. IV-Entscheide können berücksichtigt werden, sind aber nicht zwingend. Das Bundesgericht weist darauf hin, dass die Invaliditätsdefinition in der Säule 3a nicht weiter gefasst werden soll als in der zweiten Säule (BGE 141 V 405 E. 3.2), wobei für die Säule 3a die Bindungswirkung an IV-Entscheide jedoch nicht subsidiär gilt (BGE 141 V 439 E. 4.2).

  • Rechtsfehler der Vorinstanz: Die Vorinstanz hatte den Anspruch auf Prämienbefreiung mit der Begründung verneint, A._ habe stets eine volle Arbeitsfähigkeit in einer angepassten Tätigkeit gehabt. Dabei habe sie sich jedoch ausschliesslich auf die Arbeitsfähigkeit konzentriert und die Frage des tatsächlichen Erwerbseinbusses im Sinne der vertraglichen Definition ignoriert. Dies stellte eine Verletzung des anwendbaren Rechts dar, da die vertragliche Definition ausdrücklich einen Einkommensverlust als Voraussetzung für die Erwerbsunfähigkeit nennt. Das kantonale Versicherungsgericht hatte A._ im IV-Verfahren selbst einen Invaliditätsgrad von 56% zugesprochen, was einen Erwerbseinbuss nach IV-Recht bejahte. Diese Tatsache hätte die Vorinstanz bei der Prüfung der vertraglichen Erwerbsunfähigkeit berücksichtigen müssen, welche ebenfalls einen Erwerbseinbuss vorsieht.

  • Schlussfolgerung zum Anspruch auf Prämienbefreiung: Die Vorinstanz hat die Existenz einer "Erwerbsunfähigkeit" unter Missachtung der vertraglichen Definition (die einen Einkommensverlust umfasst) nicht ausreichend geprüft. Die Sache wurde daher an die Vorinstanz zurückgewiesen, damit sie diesen Punkt unter korrekter Anwendung der vertraglichen Bestimmungen neu beurteilt und eine neue Entscheidung über die Prämienbefreiung fällt. Die Beschwerde von A.__ (9C_589/2024) wurde in diesem Punkt teilweise gutgeheissen.

5. Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:

  1. Kündigung der Versicherungsverträge: Die AXA Vie SA war nicht berechtigt, die Vorsorgeverträge von A.__ wegen Anzeigepflichtverletzung zu kündigen. Die von der AXA Vie SA geltend gemachten Gründe (psychiatrische Behandlungen in der Adoleszenz und als Paar, vorübergehende psychische Beeinträchtigungen) erfüllten die Voraussetzungen einer anzeigepflichtigen Tatsache nach VVG a.F. nicht oder wurden verspätet geltend gemacht.
  2. Prämienbefreiung: Der Anspruch von A.__ auf Prämienbefreiung wurde von der Vorinstanz unzutreffend beurteilt. Die Vorinstanz hat fälschlicherweise den vertraglich definierten "Erwerbseinbuss" bei der Beurteilung der Erwerbsunfähigkeit ignoriert und sich nur auf die Arbeitsfähigkeit in einer angepassten Tätigkeit konzentriert.
  3. Rückweisung: Die Sache wird an das Kantonale Versicherungsgericht des Kantons Waadt zurückgewiesen, damit es den Anspruch von A.__ auf Prämienbefreiung unter Berücksichtigung des tatsächlichen Erwerbseinbusses gemäss den vertraglichen Bestimmungen neu beurteilt.
  4. Kosten: Die AXA Vie SA trägt die Gerichtskosten und Parteientschädigungen für beide Bundesgerichtsverfahren.