Detaillierte Zusammenfassung des Urteils des Schweizerischen Bundesgerichts 4A_557/2024 vom 23. September 2025
1. Parteien und Streitgegenstand
Die Beschwerdeführerin, A._ SA (Vermieterin), und der Intimierte, B._ (Mieter), waren durch einen Mietvertrag über eine Gewerbefläche in Genf verbunden, die zur "Ausübung einer Arztpraxis" bestimmt war. Streitgegenstand des vorliegenden Verfahrens ist die Gültigkeit einer ordentlichen Kündigung des Mietvertrags durch die Vermieterin vom 7. Mai 2021 auf den 31. Dezember 2021. Die Vorinstanzen (Mietgericht und Cour de justice Genf) hatten die Kündigung als missbräuchlich aufgehoben, was die Beschwerdeführerin vor dem Bundesgericht anficht.
2. Chronologie und Sachverhalt (Kurzversion)
- 1. Januar 2012: Mietbeginn der ca. 94 m² grossen Gewerbefläche als Arztpraxis.
- Anfang 2021: A.__ SA erwirbt das Gebäude und lässt die Räumlichkeiten besichtigen. Dabei werden ein Bett/Schlafsofa, eine Dusche sowie Esswaren und Kleider gesichtet. Kantonale Behörden bestätigen, dass der Mieter und seine Ehegattin unter der Praxisadresse domiziliert sind.
- 7. Mai 2021: Kündigung des Mietverhältnisses durch die Vermieterin. Begründung: Der Mieter und seine Ehegattin seien in Geschäftsräumen und nicht in einer Wohnung domiziliert.
- 7. Juni 2021: Der Mieter ficht die Kündigung an und beantragt subsidiär eine Mieterstreckung.
- Gerichtliches Verfahren: Der Mieter legt dar, dass er mit seiner Familie tatsächlich in einer Villa in Frankreich wohne und die Domizilierung in Genf einzig dazu diene, den Kindern den Verbleib im Genfer Schulsystem zu ermöglichen. Er habe die "Behörden" informiert, dass seine Familie nicht tatsächlich in der Praxis wohne. Die frühere Verwaltung habe dem zugestimmt. Die Vermieterin reichte Widerklage auf Feststellung der Kündigungsvalidität und Räumung ein.
- 5. September 2023: Das Mietgericht annulliert die Kündigung. Es hält fest, dass die Räumlichkeiten tatsächlich als Arztpraxis genutzt würden und die Domizilierungsproblematik ausschliesslich die Beziehung des Mieters zur Verwaltung, nicht zur Vermieterin betreffe. Mangels gültigen Kündigungsgrundes sei die Kündigung zu annullieren.
- 16. September 2024: Die Cour de justice bestätigt die Annullierung. Sie verneint eine tatsächliche Wohnnutzung und hält die Erklärung des Mieters zur fiktiven Domizilierung für überzeugend. Der Kündigungsgrund der Vermieterin sei "nicht wahr" gewesen. Den erst in den Schlussplädoyers vorgebrachten weiteren Grund, dass die Vermieterin die Täuschung der Verwaltungsbehörden nicht tolerieren könne, erachtet die Cour de justice als neuen und verspäteten Grund, der ebenfalls die mietrechtliche Beziehung nicht betreffe.
- 21. Oktober 2024: Die Vermieterin erhebt Beschwerde in Zivilsachen an das Bundesgericht.
3. Rügen der Beschwerdeführerin vor Bundesgericht
Die Beschwerdeführerin rügt im Wesentlichen eine willkürliche Sachverhaltsfeststellung sowie eine Verletzung von Art. 266a OR und Art. 271 Abs. 1 OR:
- Willkürliche Sachverhaltsfeststellung und Verletzung von Art. 8 ZGB: Der Sachverhalt sei "offensichtlich unrichtig" festgestellt worden. Es sei erstellt, dass die Räumlichkeiten zumindest teilweise zu Wohnzwecken genutzt oder für eine fiktive Domizilierung zur Täuschung der Behörden verwendet wurden. Dies widerspreche der vertraglichen Zweckbestimmung. Die Vorinstanz habe die Beweise willkürlich gewürdigt.
- Verletzung von Art. 271 Abs. 1 OR (missbräuchliche Kündigung): Die Vermieterin sei zum Zeitpunkt der Kündigung gutgläubig gewesen. Der Kündigungsgrund sei nicht "nicht wahr" oder vorgeschoben, sondern zutreffend und keineswegs "abusiv". Sie habe das Recht gehabt, den Kündigungsgrund nachträglich zu präzisieren, insbesondere angesichts des vom Mieter eingeräumten "lügnerischen Verhaltens" gegenüber der Verwaltung. Es sei "undenkbar", ein missbräuchliches Verhalten des Mieters (Täuschung der Behörden) durch Kündigungsschutzbestimmungen zu schützen ("nemo auditur propriam turpitudinem allegans").
4. Erwägungen des Bundesgerichts
Das Bundesgericht beurteilt die Rügen der Beschwerdeführerin wie folgt:
4.1. Zur Sachverhaltsfeststellung (Art. 105 Abs. 1 und 2 LTF, Art. 97 Abs. 1 LTF, Art. 9 BV, Art. 8 ZGB)
- Grundsätze: Das Bundesgericht ist an den von der Vorinstanz festgestellten Sachverhalt gebunden (Art. 105 Abs. 1 LTF). Eine Berichtigung oder Ergänzung ist nur möglich, wenn die Feststellungen offensichtlich unrichtig sind (d.h. willkürlich im Sinne von Art. 9 BV) oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 LTF beruhen und die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 LTF). Die Sachverhaltskritik unterliegt dem strengen Rügeprinzip (Art. 106 Abs. 2 LTF). Die Feststellung des Kündigungsmotivs ist eine Sachverhaltsfrage, während die Beurteilung, ob die Kündigung treuwidrig ist, eine Rechtsfrage darstellt. Art. 8 ZGB regelt die Beweislast, nicht aber die Beweiswürdigung, die Sache des Sachgerichts ist und vom Bundesgericht nur auf Willkür überprüft wird.
- Anwendung im vorliegenden Fall: Das Bundesgericht stellt fest, dass die Rügen der Beschwerdeführerin gegen die Sachverhaltsfeststellung appellatorischer Natur sind und den hohen Anforderungen von Art. 106 Abs. 2 LTF nicht genügen. Es kann weder Willkür (Art. 9 BV) noch eine Verletzung von Art. 8 ZGB erkennen. Die Beweiswürdigung der Vorinstanz, die zum Schluss kommt, dass keine tatsächliche Wohnnutzung in den Praxisräumen vorlag und der Mieter mit seiner Familie in Frankreich wohnt, sei nicht zu beanstanden. Insbesondere wird die Feststellung der Vorinstanz, wonach der von der Vermieterin ursprünglich genannte Kündigungsgrund ("teilweise Wohnnutzung der Räumlichkeiten") "nicht wahr" war, als nicht willkürlich oder offensichtlich unrichtig bestätigt.
- Fazit: Das Bundesgericht ist somit an den von der Vorinstanz festgestellten Sachverhalt gebunden, insbesondere daran, dass die Räumlichkeiten tatsächlich als Arztpraxis genutzt werden, der Mieter mit seiner Familie in Frankreich wohnt und der ursprüngliche Kündigungsgrund der Vermieterin "nicht wahr" war.
4.2. Zur rechtlichen Beurteilung (Art. 266a Abs. 1 OR, Art. 271 Abs. 1 OR)
- Grundsätze: Ein Mietvertrag auf unbestimmte Dauer kann unter Einhaltung der gesetzlichen Fristen und Termine gekündigt werden (Art. 266a Abs. 1 OR). Eine Kündigung ist jedoch anfechtbar, wenn sie gegen Treu und Glauben verstösst (Art. 271 Abs. 1 OR). Die Beurteilung, ob eine Kündigung treuwidrig ist, ist eine Rechtsfrage, die dem richterlichen Ermessen (Art. 4 ZGB) unterliegt. Das Bundesgericht prüft solche Ermessensentscheide nur zurückhaltend und greift nur ein, wenn die Vorinstanz ohne Grund von den anerkannten Grundsätzen abgewichen ist, sich auf sachfremde Tatsachen gestützt oder wesentliche Elemente ausser Acht gelassen hat, oder wenn das Ergebnis offensichtlich ungerecht ist.
- Anwendung im vorliegenden Fall:
- Die Beschwerdeführerin beruft sich auf allgemeine theoretische Grundsätze zur Kündigungsfreiheit und der Beurteilung der Kündigungslegitimität zum Zeitpunkt der Kündigung. Sie argumentiert, ihr Kündigungsmotiv sei nicht vorgeschoben und sie sei gutgläubig gewesen. Die spätere Präzisierung des Kündigungsgrundes sei zulässig gewesen, und das "lügnerische Verhalten" des Mieters dürfe nicht geschützt werden.
- Das Bundesgericht weist diese Argumente zurück. Es verweist auf die verbindlichen Sachverhaltsfeststellungen der Vorinstanz. Da diese verbindlich festgestellt hat, dass der ursprünglich genannte Kündigungsgrund (teilweise Wohnnutzung) "nicht wahr" war, hält das Bundesgericht die Beurteilung der Vorinstanz als korrekt, dass die Kündigung auf einem unzutreffenden Motiv beruhte.
- Der von der Vermieterin im Laufe des Verfahrens zusätzlich vorgebrachte Grund, dass sie die Täuschung der Verwaltungsbehörden durch den Mieter nicht tolerieren könne, wurde von der Vorinstanz zu Recht als neuer und verspäteter Kündigungsgrund qualifiziert. Das Bundesgericht bestätigt, dass diese "Frage" die Beziehungen des Mieters zur Verwaltung betrifft und nicht die mietrechtliche Beziehung zur Vermieterin. Die Täuschungsabsicht gegenüber den Verwaltungsbehörden für die Schulzulassung der Kinder macht die Kündigung im mietrechtlichen Sinne nicht weniger treuwidrig.
- Das Bundesgericht kommt zum Schluss, dass die Vorinstanz keinen Bundesrechtssatz verletzt hat, indem sie die Kündigung als anfechtbar im Sinne von Art. 271 Abs. 1 OR beurteilte. Es liegt weder eine Verletzung der explizit gerügten Bestimmungen noch eine manifeste Rechtsverletzung vor.
5. Ergebnis
Das Bundesgericht weist die Beschwerde als offensichtlich unbegründet im vereinfachten Verfahren gemäss Art. 109 Abs. 2 lit. a LTF ab. Die Gerichtskosten werden der Beschwerdeführerin auferlegt. Eine Parteientschädigung an den Intimierten wird nicht zugesprochen, da dieser sich nicht fristgerecht geäussert hat.
Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:
Das Bundesgericht hat die Beschwerde der Vermieterin abgewiesen und die Annullierung der Kündigung einer Arztpraxis bestätigt. Es hielt fest, dass der von der Vermieterin ursprünglich genannte Kündigungsgrund (angebliche Wohnnutzung) nach den verbindlichen Sachverhaltsfeststellungen "nicht wahr" war. Die spätere Argumentation der Vermieterin, sie könne die vom Mieter eingeräumte fiktive Domizilierung zur Täuschung der Verwaltungsbehörden nicht tolerieren, wurde als verspätet und für die mietrechtliche Beziehung unerheblich eingestuft. Die Täuschungsabsicht gegenüber den Behörden änderte nichts daran, dass die Kündigung im Verhältnis zur Vermieterin als treuwidrig und damit als anfechtbar gemäss Art. 271 Abs. 1 OR galt. Die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz wurde als nicht willkürlich erachtet, und eine Rechtsverletzung durch die Vorinstanz wurde verneint.