Zusammenfassung von BGer-Urteil 9C_629/2024 vom 13. November 2025

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Detaillierte Zusammenfassung des Urteils des Schweizerischen Bundesgerichts 9C_629/2024 vom 13. November 2025

I. Parteien und Gegenstand

Das vorliegende Urteil des Bundesgerichts (III. öffentlich-rechtliche Abteilung) befasst sich mit einem Rekurs von A.__ (Beschwerdeführer) gegen das Sozialversicherungsgericht des Kantons Waadt und die IV-Stelle des Kantons Waadt (Beschwerdegegnerin). Streitgegenstand ist eine erneute Leistungsanmeldung in der Invalidenversicherung (IV), insbesondere die Beurteilung des Invaliditätsgrads und des Anspruchs auf weitere berufliche Massnahmen (Umschulung).

II. Sachverhalt und Vorgeschichte

Der 1967 geborene Beschwerdeführer stellte am 3. März 2016 einen ersten Leistungsantrag bei der IV. Er war damals selbstständiger Schreiner (93%) und Experte (7%). Nachdem er verschiedene berufliche Massnahmen erhalten hatte, lehnte die IV-Stelle mit Entscheid vom 17. Juni 2020 einen Rentenanspruch ab, da seine Erwerbsunfähigkeit von 5,9% unter dem rentenbegründenden Schwellenwert von 40% lag. Dieser Entscheid wurde vom Bundesgericht am 7. März 2022 (Urteil 9C_308/2021) in seinem Ergebnis bestätigt, wobei das Bundesgericht einen Invaliditätsgrad von 35% festhielt. Das Bundesgericht legte damals ein Einkommen ohne Invalidität von CHF 60'876.25 und ein Einkommen mit Invalidität von CHF 39'789.30 fest. Letzteres basierte auf statistischen Werten der Schweizerischen Lohnstrukturerhebung (LSE), unter Berücksichtigung eines Abzugs von 10% und einer zumutbaren 50%-Tätigkeit.

Am 29. März 2022 beantragte der Beschwerdeführer erneut berufliche Massnahmen. Dieser Antrag wurde von der IV-Stelle am 7. August 2023 abgelehnt. Das kantonale Sozialversicherungsgericht des Kantons Waadt wies die Beschwerde des Versicherten gegen diesen Ablehnungsentscheid am 26. September 2024 ab. Dagegen richtet sich der vorliegende Rekurs an das Bundesgericht.

III. Rechtliche Grundlagen und Argumentationsrahmen

Das Bundesgericht zitierte und wandte die folgenden massgeblichen Rechtsgrundlagen und die entsprechende Rechtsprechung an:

  1. Revisionsgründe bei Leistungsänderungen (Art. 17 Abs. 1 ATSG i.V.m. Art. 87 Abs. 2 und 3 IVV): Ein Leistungsanspruch oder -umfang kann revidiert werden, wenn sich die für den ursprünglichen Entscheid massgebenden Verhältnisse wesentlich und dauerhaft geändert haben (sog. pro futuro-Revision). Dies ist der Hauptprüfungsmassstab für neue Leistungsanträge nach einem rechtskräftigen Ablehnungsentscheid.
  2. Invaliditätsbemessung bei Erwerbstätigen (Art. 16 ATSG): Der Invaliditätsgrad wird durch einen Einkommensvergleich ermittelt. Dabei wird das hypothetische Einkommen, das die versicherte Person ohne Invalidität erzielen könnte, mit dem Einkommen verglichen, das sie mit einer ihr zumutbaren Tätigkeit nach Durchführung von Behandlungen und Rehabilitationsmassnahmen auf einem ausgeglichenen Arbeitsmarkt erzielen könnte.
    • Einkommen ohne Invalidität: Wird so konkret wie möglich ermittelt, in der Regel basierend auf dem zuletzt vor dem Gesundheitsschaden erzielten Lohn. Es wird vermutet, dass die versicherte Person ihre Tätigkeit ohne den Gesundheitsschaden fortgesetzt hätte.
    • Einkommen mit Invalidität: Vorrangig aufgrund der konkreten beruflichen Situation der versicherten Person. Mangels konkretem Einkommen (z.B. bei fehlender oder nicht zumutbarer Tätigkeit nach Gesundheitsschaden) kann das Invaliditätseinkommen statistisch anhand der Schweizerischen Lohnstrukturerhebung (LSE) ermittelt werden. Dabei sind in der Regel die Monatslöhne der Tabelle TA1 (Privatsektor, "total") massgebend. In spezifischen Fällen können auch andere Sektoren (z.B. Sektor 2 "Produktion" oder Sektor 3 "Dienstleistungen") oder Branchen sowie Kompetenzstufen berücksichtigt werden (vgl. BGE 150 V 354 E. 6.1).
  3. Anspruch auf berufliche Massnahmen (Art. 8 Abs. 1, 8 Abs. 3 lit. b, 17 Abs. 1 IVG): Das Recht auf Umschulung hat Grenzen. Es vermittelt keinen freien Wahl des Berufs und keine Garantie für eine wirtschaftlich oder beruflich bessere Position als vor der Invalidität.

IV. Begründung des kantonalen Gerichts (Zusammenfassung der Vorinstanz)

Das kantonale Gericht bestätigte die Ablehnung des Antrags des Beschwerdeführers und führte im Wesentlichen aus:

  1. Unveränderter Gesundheitszustand: Der Gesundheitszustand des Beschwerdeführers habe sich nicht verschlechtert. Seine Arbeitsfähigkeit in einer angepassten Tätigkeit verbleibe bei 50% und sei ihm zumutbar, was der Beschwerdeführer auch nicht mehr bestreite.
  2. Einkommen mit Invalidität: Der Verlust des Arbeitsplatzes stelle keinen massgeblichen Revisionsgrund im Sinne von Art. 17 ATSG dar. Diese Situation sei weder auf eine Verschlechterung des Gesundheitszustands noch auf mangelnde angemessene Ausbildung zurückzuführen. Der Beschwerdeführer habe bereits im Rahmen seines ersten IV-Antrags berufliche Massnahmen erhalten und ein Zertifikat in Berufspädagogik erworben, welches das Bundesgericht in seinem Urteil 9C_308/2021 als ausreichend erachtet hatte. Der Verlust eines befristeten Arbeitsverhältnisses sei vielmehr eine Angelegenheit der Arbeitslosenversicherung. Das Bundesgericht habe das Invaliditätseinkommen bereits in der Vorinstanz auf Basis statistischer LSE-Werte und nicht auf einem konkreten Arbeitsverhältnis festgelegt. Der Beschwerdeführer versuche im Grunde, eine Revision des früheren Bundesgerichtsurteils (betreffend Kompetenzstufe 3 statt 2 gemäss LSE) zu erzielen.
  3. Einkommen ohne Invalidität: Ein im Scheidungsverfahren erstelltes Wirtschaftsgutachten sei nicht relevant. Es betreffe die Situation des Paares während der Ehe, also eine Zeit vor dem IV-Entscheid vom 17. Juni 2020 und dem Bundesgerichtsurteil vom 7. März 2022. Zudem enthalte es Elemente (Bewertung von Arbeiten an einer Immobilie über 17 Jahre), die für die künftige Invaliditätsbemessung im Sinne von Art. 17 ATSG unerheblich seien.

V. Rügen des Beschwerdeführers

Der Beschwerdeführer rügte eine offensichtlich unrichtige Feststellung des Sachverhalts, eine Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes (Art. 61 lit. c ATSG) sowie eine Verletzung von Art. 17 Abs. 1 ATSG i.V.m. Art. 28a Abs. 1 IVG durch die unbegründete Ablehnung eines Revisionsgrundes. Im Einzelnen machte er geltend:

  1. Einkommen mit Invalidität: Das kantonale Gericht habe zu Unrecht die Kompetenzstufe 3 der LSE (Sektor 3, Kategorie 85) angewandt, anstatt Kompetenzstufe 2. Er verfüge aufgrund medizinischer Einschränkungen, die ihn am Abschluss seiner PIRACEF-Ausbildung hinderten, nicht über die nötigen Qualifikationen für eine reguläre Lehrertätigkeit, sondern lediglich für eine Stellvertreterposition. Der Verlust seines Arbeitsplatzes sei eine direkte Folge dieser Einschränkungen und müsse bei der Bestimmung seines Invaliditätseinkommens berücksichtigt werden.
  2. Einkommen ohne Invalidität: Das im Scheidungsverfahren erstellte Wirtschaftsgutachten sei sehr wohl relevant für die konkrete Bestimmung seines Einkommens ohne Invalidität. Sein Jahresverdienst vor der Gesundheitsverschlechterung habe CHF 215'523.- betragen, wovon CHF 154'647.- auf Arbeiten an einer Immobilie entfallen seien. Das Gutachten sei zu Unrecht abgewiesen worden.
  3. Berufliche Massnahmen: Die ihm zustehende Ausbildung erlaube ihm keine stabile, unbefristete Anstellung als vollzeitlicher Lehrer. Ein E-Mail vom 17. Mai 2024 eines Schulleiters, welches seine Einschätzung untermauere, sei zu Unrecht ignoriert worden.

VI. Würdigung durch das Bundesgericht

Das Bundesgericht wies die Beschwerde vollumfänglich ab und folgte der Argumentation der Vorinstanz:

  1. Zur Frage des Einkommens mit Invalidität:
    • Arbeitsplatzverlust: Das kantonale Gericht habe zutreffend festgehalten, dass der Verlust des Arbeitsplatzes keinen Revisionsgrund gemäss Art. 17 ATSG darstelle. Das Bundesgericht habe bereits im Urteil 9C_308/2021 das Invaliditätseinkommen des Beschwerdeführers auf statistischer Basis (LSE) und nicht auf einem konkreten Arbeitsverhältnis festgelegt. Ein Wechsel der konkret ausgeübten Tätigkeit nach Eintritt der Invalidität könne zwar einen Revisionsgrund darstellen, dies treffe hier jedoch nicht zu.
    • Kompetenzstufe: Die Argumentation des Beschwerdeführers bezüglich der Kompetenzstufe (3 statt 2) sei appellatorisch und unzureichend. Das Bundesgericht hatte bereits im Urteil 9C_308/2021 festgestellt, dass die vom Beschwerdeführer absolvierte Ausbildung der Kompetenzstufe 3 gemäss LSE 2016 entsprach und ihn zur Lehrtätigkeit befähigte. Die erneute Beanstandung dieses Punktes ziele darauf ab, das frühere Bundesgerichtsurteil zu revidieren, was im Rahmen einer Revision nach Art. 17 Abs. 1 ATSG nicht möglich ist. Art. 17 ATSG betrifft die Änderung der Verhältnisse, nicht die Neubeurteilung bereits rechtskräftig beurteilter Sachverhalte.
  2. Zur Frage des Einkommens ohne Invalidität:
    • Wirtschaftsgutachten aus Scheidungsverfahren: Das Bundesgericht bestätigte die Einschätzung des kantonalen Gerichts, dass das Gutachten irrelevant sei. Es beziehe sich auf einen Zeitraum vor der ersten IV-Entscheidung (2020) und dem Bundesgerichtsurteil (2022), welches das Einkommen ohne Invalidität bereits auf CHF 60'876.25 festgesetzt hatte. Ausserdem enthielten die im Gutachten angeführten "zusätzlichen Einkünfte" von CHF 154'647.- aus 17 Jahren Arbeit an einer Immobilie Elemente, die für die Ermittlung des Invaliditätseinkommens nicht massgebend seien, sondern im Rahmen der güterrechtlichen Auseinandersetzung eine Rolle spielten.
  3. Gesamtfazit zur Invaliditätsbemessung: Das Bundesgericht gelangte zum Schluss, dass der Beschwerdeführer keine neuen, wesentlichen und dauerhaften Änderungen der massgebenden Verhältnisse (gemäss Art. 17 Abs. 1 ATSG i.V.m. Art. 28 und 28a Abs. 1 IVG) dargelegt habe, die eine Änderung des Invaliditätsgrads rechtfertigen würden. Die entsprechenden Rügen seien daher unbegründet.
  4. Zum Anspruch auf weitere berufliche Massnahmen:
    • Das Bundesgericht bestätigte, dass der Beschwerdeführer bereits berufliche Massnahmen erhalten hat, die ihm ermöglichen, seine verbleibende 50%-Arbeitsfähigkeit in einer angepassten Tätigkeit als Lehrer voll zu nutzen. Dies wurde bereits im Urteil 9C_308/2021 festgehalten.
    • Das Recht auf berufliche Massnahmen vermittle Versicherten weder die freie Wahl eines neuen Berufs noch soll es ihnen eine höhere wirtschaftliche oder berufliche Position als vor der Invalidität verschaffen.
    • Das E-Mail eines Schulleiters vom 17. Mai 2024 sei unzureichend, um die Notwendigkeit weiterer Massnahmen zu begründen. Es stamme von einem Direktor einer einzelnen Nicht-Berufsschule und belege nicht die generelle Unmöglichkeit für den Beschwerdeführer, eine passende Lehrstelle an anderen (Berufs-)Schulen zu finden. Es wurde daher kein Anspruch auf weitere berufliche Massnahmen anerkannt.

VII. Ergebnis

Das Bundesgericht wies die Beschwerde vollumfänglich ab. Die Gerichtskosten wurden dem Beschwerdeführer auferlegt.

Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:

Das Bundesgericht bestätigte die Ablehnung einer erneuten Leistungsanmeldung in der IV für den Beschwerdeführer. Es befand, dass keine wesentlichen und dauerhaften Änderungen der massgebenden Verhältnisse im Sinne von Art. 17 Abs. 1 ATSG vorlagen, die eine Revision des Invaliditätsgrads oder den Anspruch auf weitere berufliche Massnahmen rechtfertigen würden. Insbesondere wurde festgehalten, dass der Verlust eines Arbeitsplatzes oder der Wunsch nach einer höheren Qualifikation keine Revisionsgründe darstellen, wenn die Arbeitsfähigkeit (50% in angepasster Lehrtätigkeit) bereits als voll verwertbar beurteilt wurde und bereits berufliche Massnahmen gewährt wurden. Argumente, die eine Neubeurteilung der bereits rechtskräftig durch das Bundesgericht beurteilten Kompetenzstufe (gemäss LSE) oder des Einkommens ohne Invalidität (basierend auf einem veralteten und für die IV-Bemessung irrelevanten Gutachten) forderten, wurden als unbegründet abgewiesen.